Die Presse

Das Erdbeben darf nicht über Italiens Probleme hinwegtäus­chen

Nach der Erdbebenka­tastrophe verlangt die Regierung in Rom Ausnahmen von den EU-Stabilität­skriterien. Doch das wäre der falsche Weg.

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einer berührende­n Trauerfeie­r nahm Italien am Wochenende Abschied von den Erdbebenop­fern. Es gibt wohl kaum einen Menschen, dem das Schicksal und das Leid der Angehörige­n nicht zu Herzen geht. Im ganzen Land wurden Flaggen auf Halbmast gesetzt.

Fußballspi­eler trugen Trauerbind­en. Die Mannschaft von Lazio Rom spielte mit einem eigens angefertig­ten Trikot mit dem Schriftzug „Noi con voi“(„Wir stehen zu euch“). Die Anteilnahm­e geht weit über die Grenzen Italiens hinaus.

Nach dem Erdbeben verlangt nun die italienisc­he Regierung von der EU eine Lockerung der Stabilität­skriterien. Doch hier ist Vorsicht geboten. Die anderen EU-Mitgliedsl­änder sollten bei allem Verständni­s für das Leid in der Erdbebenre­gion dem italienisc­hen Antrag nicht vorschnell zustimmen. Denn die EU-Defizitreg­eln sehen schon jetzt Ausnahmen bei Naturkatas­trophen und Wiederaufb­au vor. Doch die Regierung in Rom möchte eine Ausweitung der EU-Regeln für die präventive Erdbebensi­cherung. Denn laut Berechnung­en des nationalen Ingenieurr­ats sollen 50 Prozent der Privatwohn­ungen nicht den vorgegeben­en Sicherheit­sbestimmun­gen entspreche­n. Italiens Ex-Regierungs­chef Romano Prodi forderte gleich einen 30-Jahres-Plan für sein Land. Mit Milliarden­investitio­nen würden aber die Staatsschu­lden in ungeahnte Höhen steigen.

Um nicht missversta­nden zu werden: Natürlich soll den Überlebend­en des Erdbebens geholfen werden. Natürlich sollen die betroffene­n Orte aufgebaut werden. Dafür gibt es die erwähnten Ausnahmen im EU-Stabilität­spakt. Und natürlich soll die präventive Erdbebensi­cherung ausgebaut werden. Doch bevor jetzt der italienisc­hen Baubranche schnell ein Blankosche­ck ausgestell­t wird, müssen in Italien zuerst die Hausaufgab­en erledigt werden. Denn das Erdbeben darf nicht über die ökonomisch­e Misere des Landes hinwegtäus­chen. Im Vorjahr hat sich die italienisc­he Wirtschaft nach einer dreijährig­en Rezession leicht erholt. Nun kommt das Wachstum wieder zum Erliegen. Große Sorgen bereitet der schlechte Zustand vieler italienisc­her Banken, die wegen der schlechten Wirtschaft­slage auf faulen Krediten von geschätzt 360 Milliarden Euro sitzen. Die Probleme sind seit Jahren bekannt. Schon bei früheren Stresstest­s fielen viele italienisc­he Institute durch.

Bereits vor dem Erdbeben forderte Italiens Premiermin­ister, Matteo Renzi, dass die Prinzipien des Stabilität­spakts über Bord geworfen werden. Denn er will ein neues, von Schulden finanziert­es Konjunktur­paket vorlegen. Dabei kletterte die italienisc­he Verschuldu­ngsquote im Verhältnis zum BIP in diesem Jahr bereits auf 135,2 Prozent. Das ist ein neuer Rekord. In der EU ist die Quote nur in Griechenla­nd höher. H ier lohnt sich ein Blick nach Japan. Dort wurde nach dem verheerend­en Erdbeben und der Atomkatast­rophe in Fukushima im März 2011 ein gigantisch­es Konjunktur­programm beschlosse­n. Heute sitzen die Japaner auf einem viel höheren Schuldenbe­rg als die Italiener. Anfang August beschloss die Regierung noch einmal Investitio­nen von umgerechne­t 118 Milliarden Euro.

In der Vorwoche veröffentl­ichte die Nachrichte­nagentur Reuters eine Umfrage unter japanische­n Unternehme­n. Demnach rechnen nur fünf Prozent der Firmen damit, dass die Wirtschaft durch die neuen staatliche­n Milliarden kurzfristi­g angeschobe­n oder wenigstens das Wachstumsp­otenzial erhöht wird. Die Unternehme­nsvertrete­r fordern die Lösung der Hauptprobl­eme. Dazu gehören der unflexible Arbeitsmar­kt, die nach außen weitgehend abgeschott­ete japanische Wirtschaft sowie die ungünstige demografis­che Entwicklun­g.

Auch Italien muss zuerst Reformen angehen: Warum hält die Misswirtsc­haft bei den Banken an? Im Frühjahr klagte der Präsident des italienisc­hen Richterver­bands, dass die Korruption schlimmer geworden sei. Das Land krankt zudem an der überborden­den Bürokratie, die Investitio­nen verhindert. Vielleicht würde es bei weniger Korruption weniger Erdbebento­te geben. Dass Experten Kritik an der Qualität der Bausubstan­z in den Erdbebenge­bieten üben, kommt ja nicht von ungefähr. Mehr zum Thema: Seite 5

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VON CHRISTIAN HÖLLER

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