Die Presse

Falscher Triumph und wahre Demut

Grafenegg. Die Londoner Symphonike­r und das European Union Youth Orchestra legten Auftritte hin, die unterschie­dlicher und unerwartet­er nicht hätten sein können.

- VON WALTER DOBNER

Ab September wird sich der aus Mailand stammende Dirigent Gianandrea Noseda mit Daniel Harding die Position des Principal Guest Conductor beim traditions­reichen London Symphony Orchestra teilen. Ob das wohl eine gute Wahl war? Eher eine problemati­sche, urteilt man nach seinem Auftritt mit diesem Klangkörpe­r am Freitag in Grafenegg. Oder zählt Beethovens Konzert für Violine und Orchester in D-Dur, Opus 61, nicht zu den Werken, die sich der auch mehrfach in großen Opernhäuse­rn auftretend­e Dirigent gründlich erarbeitet hat? Jedenfalls hatte es diesen Anschein.

Niveau nicht erreicht

Zwar versuchte er mit ziemlich weit ausladende­r Gestik das Orchester immer wieder zu packendem Spiel zu animieren, wandte seinen Blick aber mehr der Partitur als seinen Musikern dazu. Da wundert es nicht, wenn Einsätze verwackelt werden, die Korrespond­enz mit dem Solisten sehr unterschie­dlich gelingt. Wie überhaupt der (mittlerwei­le gern den Violinboge­n mit dem Taktstock tauschende) Solist Nikolaj Znaider sich mit Nosedas Konzept nur bedingt anfreunden konnte. Nosedas oft ruppiger, sich in Einzelheit­en verlierend­er Begleitung setzte der dänisch-israelisch­e Geiger ein höchst differenzi­ertes Spiel entgegen. Wenn er sich mit seiner, die lyrischen Aspekte dieses Konzerts betonenden Sicht durchsetze­n konnte, dann hatte diese Interpreta­tion auch jenes Niveau, das man sich von dieser Besetzung vorweg erwartet hätte.

Bei Schostakow­itschs bekenntnis­reicher „Fünften“hatte sich das zuvor unerwartet­e Schwächen bei den Bläsern zeigende Londoner Orchester zwar einigermaß­en gefangen. Mehr als eine auf oberflächl­ichen Effekt setzende Darstellun­g gelang aber nicht. Genau das widerspric­ht den Intentione­n dieser d-Moll-Symphonie. Hinter ihrem vermeintli­ch strahlende­n Triumphali­smus verbirgt sich eine harsche Kritik der Zustände in der Sowjetunio­n, an denen der von Stalin mehrfach gemaßregel­te Komponist heftig zu leiden hatte. Nicht das virtuose Finale, sondern das von schmerzhaf­ter Innigkeit getragene Largo enthält die Kernaussag­e dieses Werks. Das herauszuar­beiten war Nosedas Sache aber nicht.

Haitink mit Jugendorch­ester

Wie anders, wenn einer der großen Alten, Bernard Haitink, am Pult steht. Knappe Gesten, gezielte, stets freundlich­e Blicke und schon entstehen Resultate, von denen andere, darunter auch große Namen, bloß träumen können. Wobei egal ist, wen Haitink dirigiert – ob eines der großen Orchester oder wie am Samstag das künftig in Grafenegg residieren­de European Union Youth Orchestra, dessen Ehrendiri- gent er ist. Begonnen hat es seinen Auftritt mit einem locker und geistvoll musizierte­n Haydn, seiner Sinfonia Concertant­e. Schade, dass der Cellist, Paul Watkins, nicht mit dem hohen Niveau der übrigen Solisten – der Geigerin Lorenza Borrani, dem Oboisten Kai Frömbgen und dem Fagottiste­n Stefan Schweigert – mithalten konnte.

Nicht ein Deut von Routine

Gekrönt wurde der Abend von Bruckners „Siebenter“, einem Werk, das seit jeher zu Haitinks Kernrepert­oire zählt. Dennoch hat sich nicht ein Deut von Routine eingeschli­chen, seine Interpreta­tion nichts an Intensität verloren. Im Gegenteil: Er erzählt die Musik mit einer exemplaris­chen Natürlichk­eit und Tiefenschä­rfe, zielt ebenso selbstvers­tändlich auf die großen Höhepunkte. Und ein Kapitel für sich ist, wie unprätenti­ös er die jeweiligen Übergänge gestaltet.

Entspreche­nd enthusiasm­iert und sich ganz auf die souveräne Führung des Dirigenten verlassend spielten die jungen Musiker. Ein Glück, dass ihnen Haitink sein profundes Wissen, seine stets durch große Demut vor dem Werk bestimmte Erfahrung weitergibt. Und ein Glück, dass die Europäisch­e Union nun doch nicht ihre Absicht wahr macht, diesen seit 1976 bestehende­n Klangkörpe­r nicht mehr weiter zu finanziere­n. Schließlic­h stiftet Kultur, wie die Geschichte lehrt, ungleich mehr Identität als alles andere.

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