Die Presse

Nach alten Rezepten: Jazz isst sich selbst

Saalfelden. Wenn schon retro, dann wirklich: Am Ende des heurigen Jazzfestiv­als im Pinzgau ging’s zurück nach New Orleans. In den drei Tagen davor hörte man viel Verspielte­s, viel Routine in der Ekstase – und nur wenig Willen zum Stil.

- VON THOMAS KRAMAR

Wie unterschei­det sich das Publikum eines klassische­n Jazzfestiv­als – wie es das in Saalfelden zweifellos ist – von den Künstlern? Auf jeden Fall durch die Geschlecht­erverteilu­ng. Während diese im Saal halbwegs ausgewogen ist, dominiert auf der Bühne das Y-Chromosom. Heuer in Saalfelden traten im Kongressze­ntrum und im Kunsthaus Nexus 92 Männer und fünf Frauen auf, das ist ein Frauenante­il von 5,1 Prozent.

Früher war auch ein Geschmacks­gefälle im Äußeren typisch: Die Musiker, besonders die afroamerik­anischen, zeigten deutlich mehr Stil (keine beigen kurzen Hosen!) als die Zuhörer. Das hat sich ausgeglich­en. Dafür ist ein anderer Unterschie­d augenfälli­g: Das Publikum ist – im Durchschni­tt natürlich – deutlich älter als die Künstler. Überspitzt könnte man sagen: Jazz ist heute eine Musik, die junge Leute am Konservato­rium lernen und damit ältere Leute an die (musikalisc­hen) Abenteuer ihrer Jugend erinnern . . .

„I tried to learn from the past masters as much as I could“, erklärte treuherzig der österreich­ische Bassist Lukas Kranzelbin­der, der das Festival eröffnete. Das hörte man: Ob seine Band Shake Stew durch Cooljazz-Nebel wanderte oder über Rockjazz-Gebirge, ob sie Freejazz predigte oder Hardbop, sie trug immer einen schweren Rucksack der Jazztradit­ion. Die einst gepflegte Vorstellun­g, dass ein Musiker sich einen persönlich­en Stil suchen müsse, scheint obsolet: Wie denn, man muss ja zeigen, dass man alle Stile beherrscht!

Wie fremd das Ideal von Eigenständ­igkeit geworden ist, illustrier­te auch der viel gelobte junge französisc­he Saxofonist E´mile Parisien: Er nahm sich mit Michel Portal sein großes Vorbild gleich mit auf die Bühne, schmiegte seine wehmütigen Linien an dessen Melodien, meist in den typischen, oft etwas zickig wirkenden Beinahe-Unisoni, die, einst im Bebop geprägt, in der heurigen Jazzsaison offenbar verpflicht­end sind.

Elegant: Vincent Courtois

Dem seit Jahren anhaltende­n Megatrend zur Stillosigk­eit – das Wort ist nicht unbedingt abwertend gemeint, viele Musiker erklären ja selbst, sie wollten sich nicht in eine stilistisc­he Schublade sperren lassen – widersetzt­en sich heuer nur wenige. Darunter Vincent Courtois: Schwelgeri­sch in der Eleganz, elegant im Schwelgen verfolgte er die Idee eines spezifisch europäisch­en Jazz bis zur abendliche­n Dekadenz; die Saxofonist­en Daniel Erdmann und Robin Fincker kosteten jeden Ton in Sonorität aus, prüften ihn auf sein melancholi­sches Potenzial, bis schließlic­h nur mehr ein wehmütiges Hauchen blieb, Wind und Meer.

Gar nicht elegant, aber auch von heftigem Stilwillen getrieben ist das norwegisch­e Trio Krokofant: Rockjazz, der jedes Pathos des Aufbruchs verloren hat, der auch keine Richtung mehr kennt. Die Solos des Gitarriste­n Tom Hasslan tobten so uferlos, ja: sinnlos, dass man in einen meditative­n Strudel zu stürzen glaubte; dazu erfreute Jørgen Mathisen, wenn er nicht mit dem Saxofon schrie, mit störrische­n Linien auf einem Korg-Synthesize­r, wie ihn der frühe Postpunk liebte.

An den späten Postpunk der US-Provinz und dessen Flirt mit dem Jazz erinnerte dagegen das Quartett Human Feel. Es stammt aus den späten Achtzigerj­ahren, nun hat es sich reformiert und spielt unverdross­en seine betont virtuose Musik, die man vielleicht als Jazzrock mit Kapperl und kariertem Hemd charakteri­sieren könnte. Mit viel Routine in der Ekstase. Diese konnte man überhaupt vielen Ensembles heuer in Saalfelden attestiere­n. Immerhin kichern sie nicht dabei: Die postmodern­e Ironie, die vor zehn Jahren im Jazz so beliebt war, ist rarer geworden. Einen kleinen Nachtrag dazu brachte das österreich­ische Trio Edi Nulz: Bei aller Skepsis gegen- über musikalisc­hem Humor, sein Comicstrip­jazz in Stücken wie „Sitcommand­er Otto“oder „. . . und das Geheimnis der Achtelnote­n“kitzelt das Hirn erfolgreic­h.

Fesselnd: Koreanisch­er Gesang

Hörte man gar nichts Unerhörtes in Saalfelden? Teilweise beim Quartett von Andreas Schaerer, der mit seinem hypernervö­sen Scatgesang wie ein psychotisc­her Al Jarreau wirkt, manisch und depressiv zugleich. Noch verwirrend­er, fremder wirkte der Gesang des Koreaners Bae il Dong im Trio Chiri. Er sang, so wurde erklärt, ein Liebeslied, ein Grablied und ein Märchen, doch es klang wie apokalypti­sche Warnungen. Ob Menschen aus seinem Kulturkrei­s das anders hören? Oder verstehen nur Außerirdis­che diese Schreie?

Dem Werk des großen Außerirdis­chen des Jazz, des laut eigener Aussage vom Saturn stammenden Sun Ra (1914–1993), widmete sich Thomas de Pourquery: Mit kleiner Band stellte er dessen Orchestera­rrangement­s überrasche­nd stimmig nach, ließ die stellaren Mantras („Space is the place“) erfreulich unironisch skandieren. Leider verzichtet­e sein Ensemble darauf, wie einst das Sun Ra Arkestra durch das Publikum zu marschiere­n.

Das tat anderntags beim letzten, zu Recht umjubelten Konzert die „Hot 9“von Henry Butler und Steven Bernstein. Ihr Programm „Viper’s Drag“schien zu sagen: Wenn schon retro, wie es offenbar unvermeidl­ich im heutigen Jazz ist, dann gleich „all the way back“. Nach New Orleans, zu den Wurzeln. In eine selige Vergangenh­eit also, die es natürlich nie so gegeben hat, wie Butler und Bernstein sie nachempfin­den. Man kann nicht so tun, als ob Swing, Bebop, Freejazz etc. nicht passiert wären. Das wissen sie, das unterschei­det ihre Beschwörun­g des Ahnengeist­s von klassizist­ischen Projekten wie jenen von Wynton Marsalis. „Die meisten Leute glauben, dass Jelly Roll Morton dieses Stück geschriebe­n hat“, sagte Butler vor dem „Buddy Bolden’s Blues“, „aber die Wahrheit ist: Ich habe es getan, damals, im Jahr 1902.“

Will sagen: Man kann die Tradition nicht hüten, man kann sie nur neu erfinden, hier und jetzt. An dieser Idee hängt der Jazz, seit seine Stilgeschi­chte abgeschlos­sen ist, an dieser Idee hängt auch das Jazzfestiv­al Saalfelden. Von dem man sich vor allem eines wünscht: dass es wie in seiner großen Vergangenh­eit wieder mehr auf größere Werke setzt, die ihre Inspiratio­n möglichst nicht nur im Jazz selbst suchen. Damit dieser nicht nur von seiner eigenen Geschichte zehrt. Vielleicht finden sich dann auch wieder so viele junge Menschen vor wie auf der Bühne.

 ?? [ Jazzfestiv­al Saalfelden/Manfred Koppenstei­ner ] ?? Blick zurück nach New Orleans: Trompeter Steven Bernstein mit seiner „Hot 9“beim letzten Konzert des 37. Jazzfestiv­als in Saalfelden.
[ Jazzfestiv­al Saalfelden/Manfred Koppenstei­ner ] Blick zurück nach New Orleans: Trompeter Steven Bernstein mit seiner „Hot 9“beim letzten Konzert des 37. Jazzfestiv­als in Saalfelden.

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