Die Presse

Der Aufstand der Venezianer

Touristen verdrängen die Venezianer aus ihrer Stadt, die UNO warnt vor den verheerend­en Folgen der zu hohen Besucherza­hlen. Nun regt sich Widerstand.

- VON SUSANNA BASTAROLI

Ausgelasse­n nähern sich die jungen Touristen in Badehosen dem Canal Grande. Offensicht­lich suchen sie etwas abenteuerl­iche Abkühlung von der venezianis­chen Augusthitz­e. Gerade wollen sie ins modrige Kanalwasse­r hüpfen, als eine empörte Venezianer­in sie davon abhält, den malerischs­ten Kanal der Welt in ein FunSchwimm­becken umzufunkti­onieren.

Die Videoaufna­hmen im Internet führten zu empörten Reaktionen in Italien. Die Bilder der halb entblößten ausländisc­hen Gäste in der prachtvoll­en Serenissim­a wurden zum Sinnbild für Respektlos­igkeit und fehlende Zurückhalt­ung der Massentour­isten – ebenso wie Fotos campierend­er Menschen auf dem Markusplat­z, von Picknicks im Schatten des Campanile oder Besuchern, die an historisch­en Palazzi ihre Bedürfniss­e verrichten.

Das brachte die Wut der Venezianer zum Überkochen. Inmitten der Hochsaison, als sich die Massen durch die engen „calli“drängten, erschienen plötzlich Plakate an den alten Mauern mit der Aufforderu­ng auf Englisch: „Touristen, verschwind­et! Ihr zerstört diese Gegend.“An Mülltonnen hingen Zettel: „Stop. Ich bin in Venedig nicht willkommen.“Abgebildet war ein Schwein in Badehose, das Müll auf den Boden wirft.

„Venedig darf nicht Disneyland werden“

Seit Jahren klagen die Venezianer über die Folgen der ausufernde­n Gästepräse­nz. Sie befürchten, dass sich ihre Stadt „in ein Disneyland“verwandle. Die Zahlen sprechen für sich: Jährlich besuchen 34 Millionen Menschen die Lagunenmet­ropole, im Sommer strömen zeitweise bis zu 74.000 Menschen täglich in die Stadt. Wobei die Serenissim­a eigentlich nur eine Kapazität für zwölf Millionen Gäste pro Jahr hätte. In die Höhe schnellend­e Wohn- und Lebensmitt­elpreise, Supermärkt­e und Geschäfte, die von Bars und Restaurant­s verdrängt werden, ineffizien­te Dienstleis­tungen und überlastet­e Transportm­ittel treiben die Einwohner in die Flucht, meist ins angrenzend­e Mestre.

Die Bevölkerun­g Venedigs hat inzwischen ein Rekordtief erreicht: Lebten 1951 noch 175.000 Venezianer in der Stadt, ist die Zahl auf 56.000 Personen geschrumpf­t (83.398, wenn man die Inseln mitzählt). In ihre Domizile ziehen B&B und meist nicht amtlich registrier­te Ferienappa­rtements ein. Geschätzte 6000 Wohnungen sollen derzeit schwarz an Touristen vermietet werden.

Nun haben sich erstmals wütende junge Venezianer zusammenge­tan, um gegen „die Entvölkeru­ng“ihrer Stadt zu protestier­en. Diese Gruppe mit dem Namen Generation 90 rief vor wenigen Wochen die Venezianer zu einem friedliche­n Protestspa­ziergang durch das Zentrum auf: „Venedig ist nicht ein FunPark. Sondern eine Stadt, die wirklich existiert und die Widerstand leistet. Wir brauchen Normalität und einen Alltag. Uns gibt es, und uns soll es weiter geben“, sagte einer der Organisato­ren. Die Jugendlich­en fordern einen kontrollie­rten Qualitätst­ourismus.

Vor allem appelliert­en die Demonstran­ten an Lokalpolit­iker: Venedig drohe unterzugeh­en, statt der ewigen Planspiele solle die Stadtregie­rung endlich Taten setzen. Bereits im Juli hatte die Unesco Venedig ein Ultimatum gesetzt: Würden bis zum Februar 2017 nicht Notmaßnahm­en in Kraft gesetzt, um den Tourismus zu regulieren, könnte die Stadt den Titel Weltkultur­erbe verlieren. Ein Dorn im Auge sind der UN-Organisati­on vor allem die mehr als 1500 Kreuzfahrt­schiffe, die jedes Jahr im Herzen Venedigs anlanden. Die Monstersch­iffe bringen 500 Millionen Euro an Einnahmen, sind aber für die fragile Stadt im Meer, die sich aus 118 künstliche­n Inseln zusammense­tzt, eine tödliche Gefahr.

Numerus clausus für Besucher

Die Drohung lief bisher ins Leere. Das offizielle Venedig, aber auch die Regierung in Rom reagieren wie gelähmt auf die Touristenw­elle. An Ideen mangelt es nicht: Seit Jahren diskutiert man heftig über Verbote für Kreuzfahrt­schiffe, einen Numerus clausus für Gäste oder Hilfen für aussterben­de Handwerksg­eschäfte sowie Verhaltens­kodizes für Touristen. Doch bisher sind alle Projekte im Sand verlaufen. Und so strömen die Massen weiter unverminde­rt in die uralte Lagunensta­dt: „Venedig stirbt an zu viel Leben“, konstatier­t resigniert das Magazin „Panorama“.

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[ Reuters ] Gondelroma­ntik in der Lagunenmet­ropole: Während der Tourismus in Venedig boomt, hat die Einwohnerz­ahl ein Rekordtief erreicht.

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