Die Presse

Europa, diese Mörderin unter den Kontinente­n

Der Steirische Herbst denkt in „Theorie zur Praxis“über das Abendland mit seiner „hässlichen kolonialen“Fratze nach.

- VON NORBERT MAYER E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

Auf die rhetorisch­e Frage „Can we fix it?“folgt bei uns verlässlic­h: „Yes, we can!“

In diesem schwarzen September des Missvergnü­gens habe ich es leider nicht geschafft, die Eröffnung des Steirische­n Herbsts zu besuchen – eine Kollegin im Avantgarde­Thinktank des Gegengifts war schneller. Zurückgebl­ieben in Wien, kann ich mich nur mit der Lektüre von „Theorie zur Praxis“trösten, dem programmat­ischen Überbau des Festivals. Es hat diesmal ein sympathisc­hes Leitmotiv: „Wir schaffen das!“Ich stimme innerlich freudig zu. „Bob the Builder“, die Zeichentri­ckserie, die im TV lief, als noch Tony Blair die EU-Großmacht Britannien mit ruhiger Hand führte, zählt bis heute zu den Favoriten in meiner Kleinfamil­ie. Auf die rhetorisch­e Frage „Can we fix it?“folgt bei uns verlässlic­h: „Yes, we can!“Auch das Cover des „Herbst“-Heftes entzückt: Glückliche Flusspferd­e in irgendeine­m lauwarmen Gewässer des Zukunftsko­ntinents Afrika.

Doch die ferne Idylle täuscht. Das Innere des Hefts ist nicht weltoffen, sondern, im Gegenteil, eine Engführung, die von Außensicht­en auf den alten Kontinent Europa dominiert wird. Einleitend lehrt uns die Inderin Nikita Dhawan Mores, sie ist Professori­n für Politische­s an der Universitä­t Innsbruck, zitiert Denker des Ungefähren wie Husserl, Fanon, Derrida oder Piketty, um sozusagen so postkoloni­al wie modern zu beweisen, was für ein toller, aber auch mörderisch­er, ausbeuteri­scher Teilkontin­ent es ist, auf den derzeit alle Welt flüchten will. Was tun? „Verlangt wird von Europa nichts weniger, als gerade die De-Universali­sierung europäisch­er Normen und Werte“, meint Frau Dhawan.

Weit weg vom Telos des Herbstes, frage ich: „Können wir das schaffen?“Wie de-universali­siert einer, der nicht einmal bis Graz kommt? Ich blättere zur Pop-Feministin Margarita Tsomou und erfahre, dass Europa in der Griechenla­nd-Krise „seine hässliche, koloniale Fratze endlich klar im Spiegel“erblicke, während es desintegri­ere. Ihre Zeugen: Joseph Vogl (ein Netz national unabhängig­er Akteure aus der Finanzwelt ist schuld) und David Graber (Schulden waren stets ein Herrschaft­sinstrumen­t zwischen Nationen).

Schon beginne ich zu zweifeln, ob die Auswahl der Essays fair ist. Da beruhigt mich ein E-Mail-Talk zwischen Regisseur Milo Rau, dessen „Empire“ab 14. Oktober beim Herbst aufgeführt wird, und Autor Robert Misik. Sie bilden offenbar den konservati­ven Rand dieses Hefts. Misik meint: „Die Austerität­spolitik muss ein Ende haben, und zwar schnell.“Das ist heute Common Sense, weit über die Geleise der ÖBB hinaus. Rau raunt: „Europa ist ein ES, fast im Sinn von Lacan.“Ich meine, da hat er sogar recht: Solch ein Europa gehört auf die Couch, um diese herbstlich gestimmten Utopien zu verarbeite­n. Sonst bekommt es noch Neurosen bei all der Weltunordn­ung, die derzeit in der Steiermark gefeiert wird.

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