Die Presse

Julius Tandler und der „erbgesunde Nachwuchs“

Sozialgesc­hichte. Der sozialdemo­kratische Gesundheit­sstadtrat Tandler führte im Wien der 1920er Jahre die freiwillig­e Eheberatun­g ein. Nicht ohne politische Hintergeda­nken – und mit durchaus zweifelhaf­tem Erfolg.

- Michaela Lindinger: „Die Hauptstadt des Sex“, Amalthea-Verlag, 221 Seiten, 24,95 Euro

„Gesundheit­liche Beratungss­telle für Ehewerber“: So hieß die Einrichtun­g, und sie befand sich im Wiener Rathaus. Der sozialdemo­kratische Gesundheit­sstadtrat Julius Tandler hatte sie in den Zwanzigerj­ahren des vorigen Jahrhunder­ts eingericht­et. Es ging ihm um die Bevölkerun­gsfrage, wie Michaela Lindinger in ihrem Buch ausführt. „Erbgesunde­r Nachwuchs“war das Anliegen Tandlers. In der „Arbeiter-Zeitung“debattiert­e man, ob nicht jeder Heiratswil­lige ein ärztliches Attest beibringen sollte, um die Gefahr vererbbare­r Krankheite­n auszuschli­eßen. So entstanden als Kompromiss 1922 die Eheberatun­gsstellen unter der Leitung von Karl Kautsky jun. Die Beratung war nicht obliga- torisch, aber erfolgreic­h, allerdings nicht ganz im Sinne der Erfinder: Viele Klienten kamen erst nach der Heirat – wegen Verhütungs- und Abtreibung­sfragen.

Tandler wollte die Geburtenra­te heben, allerdings im Auslesever­fahren. Nicht das einzelne Individuum sei relevant, sondern es ginge um die Kosten für „lebensunwe­rtes Leben“. Tandler, nach dem die Stadt Wien einen Platz am Alsergrund benannt hat: „Heute vernichten wir vielfach lebenswert­es Leben, um lebensunwe­rtes Leben zu erhalten.“Dabei meinte er Kinder von Alkoholike­rn und Syphilitik­ern, die von ihm als „unwertes Leben“kategorisi­ert wurden. Dabei dachte er an medizinisc­h und sozial indizier- te Abtreibung­en. Es ist bemerkensw­ert, wie die Sozialdemo­kratie mit diesen Äußerungen bis heute umgeht. Hier freilich wird die Lebensleis­tung Tandlers subsumiert. Und die ist ohne Zweifel positiv.

Anlässlich seines 80. Todestags läuft übrigens seit Mittwoch im Döblinger KarlMarx-Hof eine Sonderauss­tellung, die dem Arzt, Wissenscha­ftler und Stadtrat gewidmet ist. Gezeigt werden auch Briefe aus seinem im Josephinum lagernden Nachlass. (Waschsalon 2, Karl-Marx-Hof, Halterauga­sse 7, 1190 Wien).

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