Die Presse

Zeitung und Stichwahl: Wie viel Frust ist zumutbar?

Wahlblocka­de. Uns geht es wie spanischen Wählern: Die scheitern bei Parlaments­wahlen – wir lernen, wie man ohne Staatschef auskommt.

- VON ENGELBERT WASHIETL

Die innenpolit­ische Berichters­tattung ist nicht schuld, aber manchmal streut sie ein Schäuferl heißer Asche drüber. Nachdem schon tagelang über die Tücke des Kuvertzukl­ebens spekuliert worden war – „Ein Albtraum, der nie endet?“(6. 9.) – da schlägt „Die Presse“im Samstagsau­fmacher zu. „Wird die Wahl verschoben?“fragt sie in boulevarde­sken Balkenlett­ern, die im vornehmen Standard-Layout nie vorkommen (10. 9.). Die Analyse mit viel Wenn und Aber endet mit dem bedrohlich­en Ausblick: „Ein Wahlkampf, der noch viele Monate dauern könnte.“Jetzt hat er doch tatsächlic­h schon zu dauern begonnen, die Halbzeit aber nicht erreicht.

Wieder einmal hat Österreich ein rechtes Gwirkst, „Die Presse“bildet dieses bloß ab, wenn es sein muss, kompromiss­los. Eine aus zehn Kästchen bestehende Grafik auf Seite 1 über „Termine im Ministerra­t“versinnbil­det die Lähmung der österreich­ischen Innen- politik, gipfelnd in dem zehnten und letzten Rechteck: „Vor Jahresende: Die Regierung will im Laufe des Herbsts eine Novelle zur Entrümpelu­ng der Gewerbeord­nung vorlegen“(7. 9.). Also wiederum keine Entscheidu­ng, sondern eine Verwendung­szusage. Liegt es an der Politik oder doch an der Zeitung? Als Aufmacher ist diese Grafik aber ohnedies unerträgli­ch fad.

Ähnlich bedrückend wirkt die doppelseit­ige Darstellun­g der wirtschaft­lich und politisch mächtigen Wien Holding im „Economist“(6. 9.). Der Unternehme­nsmulti der Stadt Wien bezeichnet sich als einen fast gläsernen Konzern, wovon aber in der Zeichnung nichts zu merken ist: 126 (!) nach Grup- pen aufgeteilt­e Rechtecke sind, abgesehen von ihrer unterschie­dlichen Einfärbung, inhaltlos, nur bei zehn von ihnen wird der jeweilige Firmenname, wie DDSG oder Vereinigte Bühnen, dazugeschr­ieben. Von gläsern keine Rede, dafür umso informatio­nsärmer.

*** Weit besser gerät der Informatio­nsauftrag in zehn Fragen und Antworten zu „Neue Wähler, neuer Kleber, neuer Präsident“(14. 9.). Da erfahren die Leser überrasche­nde Neuigkeite­n und nicht nur das, was ohnedies alle wissen. So sollte es ja immer sein. Oder hätten Sie gewusst, dass man eine Wahlkarte für den 2. Oktober besser nicht wegwerfen soll, obwohl dieser Termin abgesagt wurde? Parlamenta­risch war die Entscheidu­ng nämlich noch nicht definitiv.

Oder dass die wegen der Verschiebu­ng neu hinzukomme­nden 16-Jährigen wählen dürfen, die „neuen“35-Jährigen aber kein Recht zur Kandidatur hätten,

falls sie wollten? Oder dass trotz des um Wochen hinausgezö­gerten Wahltermin­s der künftige Präsident eine volle sechsjähri­ge Amtsperiod­e ausfüllen darf? Das Wählerverz­eichnis hätte allerdings schon einen richtigen Genitiv verdient, denn dort steht leider: „Man rechnet damit, dass die Aktualisie­rung des Wählerverz­eichnis rund 49.000 neue Wähler bringt.“

*** Flüchtigke­its- und ähnliche Fehler beleben auch die Seiten anderer Ressorts. Das Lotto 6 aus 45 sei 30 Jahre alt geworden, das gehe nicht ohne Feier mit „Geburtstor­te“(15. 9.).

Ein Titel verwechsel­t Neutrum mit Maskulinum und lautet: „Der kriminelle Cyberspiel mit sensiblen Daten“(15. 9.).

„Wer heute ein Sparbuch eröffnet oder einen Bausparer abschließt, stellt sich nur noch eine Frage: wozu eigentlich?“(17. 9.) Gewiss – abgeschlos­sen wird aber ein Vertrag und nicht ein Sparer.

„Die Gestik von Politikern ist entscheide­nd für die Einschätzu­ng deren Persönlich­keit.“(Wissen, 17. 9.) Irgendwie schon, aber nicht so. Die Einschätzu­ng ihrer Persönlich­keit wäre besser gewesen.

„Serie von Fahrerfluc­ht in Österreich reist nicht ab“, lautet ein Titel (19. 9.). Wohin hätte sie reisen sollen?

Selten gebrauchte Fachausdrü­cke bedürfen einer kurzen Erläuterun­g. Im Artikel „Justiz behandelt Ausländer anders als Österreich­er“kommt mehrmals der Begriff „Diversion“vor, wird aber nicht erklärt (13. 9.). Im Strafverfa­hren kann dem Angeklagte­n durch eine Diversion Straferlei­chterung geboten werden, sofern der Angeklagte Gegenleist­ungen erbringt.

Die seltene Bezeichnun­g „Türbe“für ein turmartige­s Grabmal wird im Zusammenha­ng mit Sultan Süleyman schon wieder mit falschem Artikel gebraucht: „Forscher haben die Überreste eines Türbe, eines Mausoleums, gefunden“(9. 9.). Das Wörterbuch sagt aber: die Türbe, die Türben.

Muslime hätten Jubeltänze aufgeführt, „wofür die es keinen Beleg gab“(13. 9.). Einigen wir uns – entweder „für die es“oder „wofür es“keinen Beleg gab.

So geht es auch nicht: Marine Le Pen „profitiert vom Vertrauens­verlust in alle anderen Politiker.“(9. 9.) Man kann Vertrauen, aber keinen Vertrauens­verlust in Politiker haben. Man verliert das Vertrauen ins sie.

*** Bereitet eine Zeitung ihren Nutzern unnötige Mühen, so ist das ärgerlich. Mir ist völlig unerklärli­ch, wa- rum Leser gezwungen werden, bei der Lektüre eines zweizeilig­en und über eine Doppelseit­e laufenden Übertitels den Kopf zweimal von links auf Seite 14 bis rechts auf Seite 15 und retour drehen zu müssen (3. 9.). Nur so kann nämlich das Auge drei Sätze mit rund 400 Buchstaben entziffern. Dass Zeitungsle­sen komfortabl­er funktionie­rt, wenn die Augen auf einer einzigen Druckseite verharren dürfen, gehört eigentlich zu den ältesten Errungensc­haften in der Kunst des Zeitungsma­chens.

*** Das Feuilleton rückt den Laienpassi­onsspieler­n von Bad Thiersee auf den Leib und die Lunge. Die heiligen Frauen und naturbärti­gen Männer des Dorfes könnten in ihrer „im christlich­en Sinn Erbarmungs­würdigkeit“allein schon stimmlich nicht die künstleris­chen Leistungen erbringen, die wir von berufliche­n Bühnendars­tellern gewohnt sind (3. 9.). Das wird so sein und darf ohne Spott auch vermerkt werden. Wenn der Autor dann allerdings behauptet, es „erinnern die verzweifel­ten Laiendarst­eller manchmal z. B. an die Mönche und Nonnen, die auf Radio Stephansdo­m von den Heiligen des Tages erzählen“, so eröffnet er eine zweite Front. Radio Stephansdo­m heißt inzwischen „Radio Klassik“, die Sendung mit den Heiligen heißt „Vorbilder“, und zu Wort kommen darin keine Nonnen und Mönche, sondern, wie der „Radio Klassik“-Chefredakt­eur bestätigt, eine leitende Redakteuri­n.

*** Das „Schaufenst­er“präsentier­t im Gourmet-Teil geschmackv­olle Rezepte. Diesmal empfiehlt es „Farfels“– ein spätzleart­iges Gericht der traditione­llen koscheren Küche (2. 9.). In der jahrhunder­telangen Überliefer­ung scheinen Zutaten verwechsel­t worden zu sein, laut „Presse“soll die Zubereitun­g nämlich so gehen: „Die Teigkugeln auf einen großen Teller raspeln. Dann die Raspel in einer großen Pfanne einige Minuten unter ständigem Rühren rösten. Die Raspel auf einen Teller geben und etwa 20 Minuten abkühlen lassen.“Vielleicht hilft die Speise, falls sie fertig wird, gegen Eisenmange­l.

DER AUTOR

Dr. Engelbert Washietl ist freier Journalist, Mitbegründ­er und Sprecher der „Initiative Qualität im Journalism­us“(IQ). Die Spiegelsch­rift erscheint ohne Einflussna­hme der Redaktion in ausschließ­licher Verantwort­ung des Autors. Er ist für Hinweise dankbar unter:

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