Die Presse

Wie wissen Vierbeiner, wohin sie ihre Füße setzen?

Das Rückenmark steuert den Großteil der Bewegungen, das Hirn schaltet sich nur bei Überraschu­ngen ein. Das ist auch beim Menschen so.

- VON ALICE GRANCY Senden Sie Fragen an: wissen@diepresse.com

Ein Esel kraxelt geschickt den Steilhang einer griechisch­en Insel hinunter, auch die Last auf seinem Rücken bringt ihn nicht aus dem Gleichgewi­cht. Ein Reh fühlt sich bedroht und rast in atemberaub­endem Tempo durch den Wald. Ein Steinbock springt scheinbar mühelos eine Felswand hinauf, ohne den Untergrund zu inspiziere­n. „Die Tiere wissen durch das sensorisch­es Feedback, wo sich ihre Extremität­en in Relation zur Umgebung befinden“, erklärt Christian Peham von der VetMed-Uni Wien.

Dabei steuern Sensoren in Haut und Muskeln die Wahrnehmun­g, nur ein kleiner Teil der Informatio­nen kommt aus dem Gehirn. Der Großteil geht vom Rückenmark direkt an die Gliedmaßen. Das erlernen die Tiere von klein auf und verfeinern die Bewegungsm­uster dann ihr Leben lang. „Sie wissen intuitiv, wie die Gelenksste­llung im Körper ist und wie sich ihre Gliedmaßen im Raum bewegen“, sagt Peham. Forscher testeten das bei Katzen in den 1960er-Jahren in einem grausamen Experiment: Man durchtrenn­te das Rückenmark der Tiere. So konnte das Gehirn die Bewegung nicht mehr beeinfluss­en, dennoch beherrscht­en sie alle Gangarten.

Pferde können Stiegen steigen

Das Gehirn greife nur ein, wenn das Tempo geändert wird oder sich Überraschu­ngen im Umfeld ergeben, erklärt Peham. Das ist auch beim Menschen so, der eigentlich trabt: So wie sich die diagonalen Beinpaare beim Pferd gleichzeit­ig nach vorn oder hinten bewegen, schwingen bei ihm linker Fuß und rechte Hand gleichzeit­ig nach vorn – und umgekehrt. Sportler trainieren die Wahrnehmun­g ihrer Gliedmaßen im Raum auch. Skirennläu­fer Ivica Kostelic´ soll dazu etwa in atemberaub­endem Tempo über Felsen am Strand rennen. „Wenn ich erst zu denken beginne, wie eine Bewegung funktionie­rt, ist es auch schon zu spät“, sagt Peham – und das gelte, wenn es wirklich schnell gehen muss, für Mensch und Tier. Die Augen können dabei nur ein Stück weit kompensier­en.

Fehlt der optische Reiz, lässt sich testen, ob ein Pferd sensorisch­e Defizite hat: nämlich wenn man ihm ein Tuch über die Augen hängt und es beim Führen zur Seite driftet und keine gerade Linie halten kann. „Wir müssen ja aus dem Verhalten des Tieres auf eine Erkrankung schließen“, so Peham. Auch ob – beim Pferd etwa durch Viren verursacht­e – neurologis­che Probleme vorliegen, erkennen Veterinärm­ediziner, wenn es vor ihnen in Schlangenl­inien eine Gehsteigka­nte hinauf und hinunter geführt wird: Stolpert es häufig mit den Hinterbein­en, ist das ein Hinweis darauf, dass das sensorisch­e Feedback nicht mehr richtig funktionie­rt. Denn normalerwe­ise sind Pferde geschickt: Sie können sogar Stiegen steigen.

In seiner Forschung in der Movement Science Group der Vet-Med-Uni untersucht Peham derzeit in einem vom Wissenscha­ftsfonds FWF geförderte­n Projekt, inwieweit das Pferd ein Modell für den Menschen sein kann: Dabei geht es darum, wie sich Muskelnetz­werke der Vierbeiner abstimmen. Die Erkenntnis­se könnten der Humanmediz­in nutzen. In weiteren Projekten wurden Vorrichtun­gen entwickelt, mit denen sich Böden – etwa in Ställen oder Reitanlage­n – testen lassen. Denn auch wenn sich die Tiere geschickt über Stock und über Stein bewegen, müssen die Bedingunge­n in Sport und Haltung doch dauerhaft passen.

„Tiere wissen, wo sich ihre Extremität­en in Relation zur Umgebung befinden.“Christian Peham, Vet-Med-Uni Wien

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[ Foto: Eva Peham]

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