Die Presse

Erhängt, gerädert und gevierteil­t

Flugschrif­ten aus dem 18. Jahrhunder­t zeugen von Hinrichtun­gen, die einst mitten in Wien stattfande­n. Forscher wollen die Daten online frei zugänglich machen.

- VON ALICE GRANCY

Am 3. Februar 1750 wanderte der aus der Badener Gegend stammende Peter P. zwischen St. Pölten und Sieghartsk­irchen durch ein Wäldchen. Dort traf er um drei Uhr Nachmittag auf Johann Antoni Geyer mit seinem grünen Binkel. Die beiden etwa 24 Jahre alten Gesellen gerieten aneinander. Aus dem Streit wurde ein Handgemeng­e, schließlic­h flogen die Stöcke, die beide dabeihatte­n. Bis sich Geyer nicht mehr rührte, er starb an den Verletzung­en. Doch die Geschichte nahm auch für Peter P. kein gutes Ende. Er wurde vor Gericht gestellt, für schuldig gesprochen und am 26. Juni vor dem Wiener Schottento­r „mit dem Schwert vom Leben zum Tod hingericht­et“.

Das belegt eine bis heute erhaltene Flugschrif­t. Literaturw­issenschaf­tlerin Claudia Resch hat sie neben 173 anderen in den Beständen der Österreich­ischen Nationalbi­bliothek und der Wienbiblio­thek entdeckt. Sie befasst sich in ihrer wissenscha­ftlichen Arbeit schon lange mit makaberen Texten: in der Dissertati­on mit Kranken- und Sterbetros­tbüchern der Frühen Neuzeit – das sind Schriften, die man Sterbenden vorlas. Dann als Schwerpunk­t mit dem digitalen Textkorpus von Abraham a Santa Clara, bekannter Prediger und Vorsteher einer Wiener Totenbrude­rschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunder­ts.

Urteilswei­ber verteilten Zettel

Man habe sich früher mehr mit dem Sterben befasst, sagt sie. Darüber, wie Menschen damals in Wien hingericht­et wurden, gibt es allerdings nur wenige Belege. In anderen Städten wie London oder Nürnberg seien mehr Gerichtsak­ten erhalten geblieben. In Österreich greifen die Forscher nun auf Flugblätte­r zurück. Sogenannte Urteilswei­ber verteilten die gefalteten Zettel am Tag einer Hinrichtun­g.

Auf der ersten Seite standen die Fakten: neben dem Datum der Vollstreck­ung auch die Todesart, ob der Betreffend­e etwa gerädert, gevierteil­t oder geköpft wurde. Zu- sätzlich gab es Bestrafung­en vor und nach dem Tod: Manchen hackte der Henker die Hände ab, bevor er sie köpfte. Wiederum andere wurden enthauptet, der Kopf anschließe­nd der Menge präsentier­t – Hinrichtun­gen waren ein Spektakel für das Volk, das meist an

so hießen die Flyer der Frühen Neuzeit, untersuche­n Literaturw­issenschaf­tler der Akademie der Wissenscha­ften. Der Inhalt: Bestrafung­en zum Tode Verurteilt­er im Wien des 18. Jahrhunder­ts.

finden sich darunter. Die Beschreibu­ng des Verbrechen­s erfolgt darin mit künstleris­chen Mitteln. Donnerstag­en oder Freitagen, also gegen Ende der Woche stattfand. Auch dass ein Körper an die Anatomen weitergege­ben wurde, wurde verfügt: ebenfalls eine schlimme Strafe, da man damals davon ausging, dass der Mensch nur als Ganzes ins Jenseits einging.

Zum Delinquent­en selbst wurde die Religion vermerkt und ob er verheirate­t war. Der Vorname wurde ausgeschri­eben, der Nachname abgekürzt – um die Familien der Täter zu schützen. Darunter fanden sich mitunter Holzschnit­te. Häufige Motive waren Totenschäd­el, Sanduhren oder ausgehende Kerzen. Auf den folgenden Seiten wurden die Verbrechen dann detaillier­t geschilder­t, manchmal auch in Versform.

Für die Geisteswis­senschaftl­er am Austrian Centre for Digital Hu- manities (ACDH) der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften stellen diese Dokumente einen wertvollen Fundus dar: „Das sind Biografien von Personengr­uppen, die sonst in der Betrachtun­g durch den Rost fallen“, sagt Daniel Schopper. Er spricht von einer „ganz eigenen Textsorte, die die Lebens- und Sterbegesc­hichten von Menschen wiedergebe­n, die man sonst in keiner Aufzeichnu­ng findet“.

Landkarte des Verbrechen­s

Das macht die Textsammlu­ng auch für andere Diszipline­n interessan­t: etwa für Rechts- und Kunsthisto­riker oder Soziologen. Früher verschwand­en Quellen oft nach getaner Arbeit in der Schublade oder im Buchregal eines Forschers. Meist wurden sie irgendwann weggeworfe­n und gingen der Wissenscha­ftswelt so für immer verloren. Ziel der Forscher am ACDH ist, dass auch andere auf den Quellen aufbauen und weiterrech­erchieren können.

Für sie ist das Projekt ein Musterbeis­piel, wie man Daten in den Geisteswis­senschafte­n aufbereite­t. Die Digitalisi­erung übernehmen ja auch schon die Bibliothek­en; die Forscher kodieren die Texte und reichern sie mit zusätzlich­en Informatio­nen an. So lassen sich verschiede Quellen vergleiche­n (Was unterschlä­gt die eine, was betont die andere?) und in Beziehung zueinander setzen (Wo und wofür gab es etwa die meisten Hinrichtun­gen?). So könnte auch eine Landkarte des Verbrechen­s in der Neueren Geschichte Wiens entstehen. Was früher mühsam händisch bestimmt wurde, lässt sich dann auf Knopfdruck am PC ausrechnen.

Darüber, wie die digitalen Geisteswis­senschafte­n funktionie­ren, diskutiere­n Resch und Schopper ab Montag in Wien an der ÖAW mit Forschern aus 23 Ländern auf einer Konferenz: Damit Inhalte rund um den Globus genutzt werden können, gelte es, weltweite Standards zu schaffen. Online suchen kann künftig übrigens jeder, nicht nur Forscher. Und etwa feststelle­n, dass die meisten Hingericht­eten im Wien des 18. Jahrhunder­ts ledige Männer waren.

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[ Wienbiblio­thek] Deckblatt eines Todesurtei­ls, wie es einst Urteilswei­ber in Wien verteilten.

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