Das Aschenputtel unter den Psychopharmaka
Medizin. Lithium wird seit Jahrzehnten in der psychiatrischen Therapie eingesetzt. Nachgewiesen ist, dass es das Suizidrisiko bei manchen Depressionsarten senkt. Wiener Forscher vermuten, dass es auch gegen Alzheimer wirkt.
2014 starben in Österreich dreimal so viele Menschen an Suizid wie an Verkehrsunfällen: 1313. Umso relevanter ist die Ursachenforschung, der sich die Suicide Research Group der Med-Uni Wien widmet. Jetzt stellte sich heraus, dass die Ergebnisse auch für die Bekämpfung von Alzheimer bedeutsam werden.
Schon 2009 erkannte man eine geografische Verteilung von Suiziden: Unter anderem spiele Einkommensgefälle, Arbeitslosigkeit und psychotherapeutische Versorgung eine wichtige Rolle. „Interessant ist auch, dass die Suizidrate umso niedriger ist, je größer der ausländische Bevölkerungsanteil in einer Region ist“, erklärt Nestor Kapusta, der die vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierte Studie betreute. Vor allem Muslime haben eine niedrige Suizidrate.
Für Österreich gilt auch, was für Japan und die USA bereits untersucht ist: Der Gehalt des Alkalisalzes Lithium im Wasser steht in Zusammenhang mit der Zahl der Suizide in einer Region. Schon seit 1949 ist bekannt, dass Lithium präventiv gegen Suizidalität im Rahmen von Depressionen wirken kann. Es gehört zum festen Repertoir in der Therapie verschiedener Formen von Depression. Da es in geringen Mengen auch in der Natur, d. h. im Erdreich und im Wasser, vorkommt, ließ sich der Einfluss auf die Suizidverteilung erforschen.
2011 konnte für Österreich der Zusammenhang zwischen Lithiumgehalt im Trinkwasser und der Zahl der Suizide nachgewiesen werden. Besonders hoch sind Suizidraten in manchen ländlichen Gebirgsregionen von Salzburg oder Kärnten, besonders niedrig in sumpfigen Gegenden, z. B. Niederösterreich oder Burgenland, wo Lithium durch Regen aus dem Erdreich herausgespült wird und ins Trinkwasser sickert. „Ich würde meine Hand ins Feuer legen, dass in diesen Regionen auch die Lithiumwerte im Blut höher sind“, meint Kapusta.
So stellte sich die Frage, inwieweit sich Lithium-Medikamenten- rückstände im Trinkwasser der Österreicher wiederfinden. Da die pharmazeutische Industrie Zahlen über Medikamentenverkauf der Apotheken drei Jahre lang speichert, war es möglich, eine Landkarte der Verteilungshäufigkeit von Lithiumverkaufszahlen zu erstellen. Schnell habe sich herausgestellt, dass Lithium in Städten häufiger pro Kopf verschrieben wird als auf dem Land.
Keine Rückstände im Wasser
Ein Zusammenhang mit dem Lithium im Trinkwasser zeigt sich jedoch nicht, Hinweise auf Rückstände fehlten. Insofern kann Entwarnung für das österreichische Leitungswasser gegeben werden.
Auch wenn einige Forscher fordern, dem Trinkwasser Lithium beizumischen, wie es in manchen Ländern mit Fluor geschieht, um die Zahngesundheit zu steigern, mahnt Kapusta Zurückhaltung ein. Die Nebenwirkungen von Lithium bei einer flächendeckenden Anwendung seien nicht untersucht. Manche sollten bei der Einnahme von Lithium vorsichtig sein, etwa Menschen mit Schilddrüsen-, Nieren- oder Hauterkrankungen wie Psoriasis.
Niedrige Dosen von Lithium können aber vielleicht bald dazu beitragen, Alzheimer zu bekämpfen. Erste Studien an Patienten zeigen vielversprechende Ergebnisse. Zusammen mit der Pathologin Gerda Egger und dem Psychiater Daniel König von der Med-Uni Wien wird an Gehirnzellkulturen untersucht, wie Lithium die Funktion bestimmter Enzyme, wie GSK-3 und BDNF, innerhalb von Zellen verändert, die auch deren Lebensdauer modulieren.
Ähnlich wie bei Alzheimer erleiden Menschen mit manisch-depressiven Erkrankungen mit jeder Krankheitsphase Zellverluste, die mit kognitiven Einschränkungen einhergehen. Lithium könnte einen schützenden Effekt mit sich bringen, wenn die Nervenentwicklung angekurbelt wird und das Absterben der Zellen gebremst wird. Doch diese Effekte auf Zellen müssen erst genau untersucht werden.