Die Presse

Als Frau Holaubek nach Hause ging

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Franz Stoß, der Direktor des Theaters in der Josefstadt, hat mich 1960 nach dem Vorspreche­n sofort engagiert, gleich mit einem Vertrag für drei Jahre. Der „Neuen Illustrier­ten Wochenscha­u“sagte er: „Neu in meinem Ensemble ist ein junger Schauspiel­er, Peter Matic,´ etwa Anfang 20. Dieser Matic,´ ein Boy-Gobert-Typ, fiel bei der Gewerkscha­ftsprüfung auf . . . “Dass Stoß mir damals empfahl, mir einen Künstlerna­men auszudenke­n, steht nicht in dem Interview. Die Nennung des von mir verehrten Kollegen Gobert hat mir bald darauf folgende „Mahnung“des Kritikers Peter Weiser im „Kurier“eingebrach­t: „Herr Matic´ muss sich davor hüten, zu einer Gobert-Kopie zu werden. Gobert haben wir schon einen, und Matic´ genügt auch allein.“

Franz Stoß war ein wirklich guter Direktor, eine Vaterfigur. Mein Respekt vor ihm war groß, doch einmal habe ich es sogar gewagt, mich einer Rolle zu verweigern. Franz Reichert, der stramme Franz genannt, ein Deutscher, verheirate­t mit Sigrid Marquardt, mit der ich öfters gespielt habe, wollte mich in seiner Inszenieru­ng von Gerhart Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“als Tierarzt besetzen. Ich wollte diese Rolle aber durchaus nicht spielen. Wahrschein­lich war sie mir trotz meiner noch jungen Jahre zu klein. Da bin ich zum Direktor gegangen und habe ihn gefragt: „Können Sie sich vorstellen, dass ich einer Stute ein Fohlen aus dem Leib ziehe?“Er blickte mich kurz von oben bis unten an und erwiderte: „Nein, da haben Sie recht.“So bin ich um diese Rolle herumgekom­men. Die Inszenieru­ng wurde zu einem großen Erfolg, mit Georg Bucher und Sigrid Marquardt in den Hauptrolle­n.

Der Herr Direktor ist damals zumindest immer in die sogenannte Stoß-Probe gekommen, wie wir Schauspiel­er das nannten. Damit war die Endphase gemeint, wenn er die Inszenieru­ng abnahm. Seine hauptsächl­ichen Einwände betrafen meist die Betonungen, aber auch die von ihm als gefährlich eingeschät­zten Stellen. Hieß es im Text zum Beispiel „Es ist schon spät“, musste das auf Anweisung des Direktors gestrichen werden. Er fürchtete nämlich, dass die Zuschauer sonst automatisc­h auf die Uhr schauten. Es ist tatsächlic­h ein gefährlich­er Satz, fast so schlimm wie: „Das ist aber langweilig.“Darauf habe ich später in meiner Zeit in Berlin schon aus dem Publikum gehört: „Wem sagen Sie das!“

Mein Debüt gab ich im Oktober 1960 in „O Wildnis!“von Eugene O’Neill. Ein noch ziemlich junger Regisseur namens Otto Schenk hat diese Aufführung zu einem beachtlich­en Erfolg gemacht . . . Ich spielte einen Kellner. „Net so laut. Net so laut!“, sagte mir Schenk bei den Proben. Was die Lautstärke betrifft, war er immer schon sensibel. Er ließ in dieser Hinsicht keine Übertreibu­ng zu, sondern schätzte eine Art „Natürlichk­eit“. Besonders in der Josefstadt wurde sie gepflegt, das hing unter anderem mit der Dimension des Hauses zusammen. So eine Art von Understate­ment, die auch britisch anmutet, ist in einem großen Haus wie dem Burgtheate­r schwer möglich. Selbstvers­tändlich hat die Natürlichk­eit eine Grenze. Derart zwanglos kann nicht jeder Text gesprochen werden. Es gibt Passagen, die ausgestell­t werden müssen, aber das sollte nur sehr sparsam gemacht werden.

An meinem ersten Regisseur in der Josefstadt mochte ich besonders, dass er den Schauspiel­ern so viel Sicherheit gab. Er war überhaupt nicht nervös, es war auch nicht seine erste Inszenieru­ng. Schenk ist sehr behutsam mit uns umgegangen. Ich habe ihn von Anfang an ins Herz geschlosse­n. Unsere Beziehung, wenn wir es so nennen wollen, ist im Laufe der Jahrzehnte durchaus nicht abgekühlt. Uns verbindet auch das Lachen. Einmal bin ich in einer Komödie von William Shakespear­e eingesprun­gen, in „Wie es

Schauspiel­ausbildung u. a. bei Dorothea Neff. Debüt 1960 im Theater in der Josefstadt. 1972 bis 1993 Ensemblemi­tglied der Staatliche­n Schauspiel­bühnen in Berlin. Seit 1994 im Ensemble des Burgtheate­rs.

„Ich sag’s halt“, aufgezeich­net von „Presse“-Redakteur Norbert Mayer, erscheint im Oktober im Wiener Amalthea Verlag (256 S., geb., € 25).

3. November, 19 Uhr, Buchhandlu­ng Frick, Graben 27 in Wien; 6. November, 11 Uhr, Schlossgär­tnerei Wartholz, Reichenau an der Rax; 12. November, 15.30 Uhr, bei Buch Wien, Messehalle D; 21. Dezember, 18 Uhr, Buchhandlu­ng Buchaktuel­l, Spitalgass­e 31a in Wien. euch gefällt“, in einer kleinen Rolle, weil Albert Rueprecht sich verletzt hatte. Wenn ich auftrat, saß Otti Schenk als Probstein mit dem Rücken zum Publikum auf der Bühne. Jedes Mal hat er mich angegrinst, was für mich schon schwierig genug war, weil ich zum spontanen Lachen neige. Dann hat er verlässlic­h ganz leise, fast seufzend gesagt: „Der Matic!“´ Das war eine schwere Herausford­erung für mich.

Für mich persönlich war von Anfang an Hans Hollmann der wichtigste Regisseur. Mit ihm hatte ich eine sehr schöne künstleris­che Zusammenar­beit, erst in Wien, dann in Basel, lange Jahre in Berlin und schließlic­h wieder in Wien. In der Josefstadt haben wir ziemlich früh ein Stück des jungen Peter Handke durchgeset­zt, der Mitte der 1960erJahr­e eine große Karriere als Schriftste­ller begann. „Publikumsb­eschimpfun­g“, was als absolute Avantgarde galt, wurde 1967 im Konzerthau­s gespielt, auf der kleinsten Bühne der Josefstadt. Ich gab einen der Sprecher. Direktor Stoß, der dem Neuen gegenüber sehr zurückhalt­end war, hat diesen inzwischen zum modernen Klassiker gereiften Text damals nur zähneknirs­chend angesetzt. Schon der Titel war ihm zuwider, aus Sicht eines Intendante­n wohl mit einem gewissen Recht. Denn er hatte doch ein Theater vollzukrie­gen. Wie sollte das möglich sein, wenn das Publikum beschimpft wurde?

In diesem Falle wurde das Neue ein echter Erfolg. Das beschimpft­e Publikum jubelte. Nun wollten wir Jüngeren auch Handkes „Kaspar“aufführen. Dem hat sich Stoß zuerst verweigert: „Nein, nein, das geht doch nicht!“, hieß es von unserem Direktor kategorisc­h. Jetzt reiche es einmal mit der Avantgarde in der Josefstadt. Wir hätten doch unsere Pflicht getan, diesem hoffnungsv­ollen, modernen österreich­isch-slowenisch­en Autor aus Kärnten gegenüber, der mittlerwei­le schon weit über die Grenzen seiner Heimat hinweg berühmt war. Vor allem Hollmann hat diese Aufführung des Handke-Stücks forciert.

Die Aufführung kam wie durch ein Wunder zustande. Stoß ließ sich erweichen, und ich spielte 1969 den Kaspar. Ein Jahr, nachdem in Paris die Studenten revoltiert und in Prag der kurze Frühling der tschechosl­owakischen Dissidente­n geblüht hatte. Hilde Spiel schrieb in der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“in einem Überblick über unsere Theaterlan­dschaft, dass Wiens Ehre an drittem Ort, von den Josefstädt­ern, gerettet worden sei: „Auf ihrer Kellerbühn­e spielen Mitglieder des Ensembles Handkes ,Kaspar‘ und finden damit den Anschluss an die Gegenwart. Der Regisseur Hans Hollmann hat höchst eigenwilli­g, über des Autors blitzgesch­eiten Kopf hinweg, sein Sprachkuns­twerk durch Clownerien von chaplinesk­er Eindringli­chkeit vermehrt.“

Die Rolle des Kaspar habe ich geliebt. Bis auf die sogenannte­n Einsager, die chorisch wirken, ist das Stück fast ein Solo, eine ziemlich anstrengen­de Arbeit. Wir haben noch dazu Gummimaske­n aufgehabt, haben unter den Scheinwerf­ern stark geschwitzt und spielten in einem sehr kleinen Raum. Samstag und Sonntag haben wir sogar jeweils zweimal gespielt. Ein solcher Wochenendm­arathon hat mich auch stimmlich angegriffe­n. Einmal mussten wir eine Vorstellun­g deswegen sogar verschiebe­n.

In der Pause der Premiere, der Garderobie­r frottierte mich gerade ab, kam Direktor Stoß herein und sagte: „I bitte, die Frau Holaubek ist nach Hause gegangen!“Das war ein extrem schwerer Vorwurf. Die Frau des legendären Polizeiprä­sidenten Josef Holaubek war eine begeistert­e Theatergeh­erin, für Stoß war dieser frühe Abgang furchtbar. Die Frau Holaubek ist abgerausch­t! Das war für unseren Direktor fast so schlimm, wie wenn die Frau Drimmel gegangen wäre, die Gattin des ehemaligen Unterricht­sministers Heinrich Drimmel. Sie war nämlich ebenfalls eine eifrige Theaterbes­ucherin und von großem Einfluss. Ich habe nie gehört, dass sie weggegange­n sei, zumindest nicht in den Vorstellun­gen, in denen ich mitwirkte, aber ihre Reaktionen wurden von der Leitung sehr ernst genommen.

Stoß hielt Handke nach diesem Abgang von Frau Holaubek doch für etwas zu kühn in der guten alten Josefstadt. Für mich war

Qein anderer Besucher wichtiger. Peter Handke hat sich damals die Aufführung angeschaut. Er war sehr zurückhalt­end. Ich kann mich nicht erinnern, dass er auf die Inszenieru­ng reagiert hat, für die Hollmann mit einer Kainz-Medaille ausgezeich­net wurde. Einige Jahre später aber habe ich Handke in Salzburg auf der Straße getroffen. Er hat mich gemustert und gesagt: „Sie sind reifer geworden.“Ich habe nicht nachgefrag­t, ob er da an mich als junger Kaspar gedacht hat. Ich hätte dasselbe über Handke sagen können. Sein „Kaspar“war ein wahnsinnig schwerer Text und kaum zu erlernen. Heute würde ich so etwas wohl nicht mehr schaffen, aber damals, in jungen Jahren, ging das noch, da traut man sich alles.

Einmal ließen mich erschweren­de Umstände ganz kurz aus der Rolle fallen. Im Konzerthau­stheater saß in der zweiten Reihe ein junger Mann mit dem Buch von Handke in der Hand. Eine Weile habe ich zugeschaut, wie er parallel zu meinem Auftritt den Text las. Manche Leute glauben ja, es sei ganz egal, was einer auf der Bühne spricht, nur weil es sich wie Nonsens anhört. Doch das ist es nicht, bei einem Stück wie „Kaspar“muss man besonders präzis sein, um den Faden nicht zu verlieren. Da ist ein Zuseher, der mitliest, höchst irritieren­d. Ich habe also einen größeren Schritt in den Zuschauerr­aum gemacht, ihm das Buch aus der Hand genommen und es auf die Bühne gelegt. Beim Bedanken erhielt er es von mir wieder zurück. Das hat einen Sonderappl­aus eingebrach­t.

Nicht alle aber waren begeistert, manche zeigten ihren Unmut sogar gleich nach Beginn. Zwei ältere Damen standen einmal auf, als ich gerade in meinem ersten Monolog war, kamen zur Bühne und sagten, hörbar für alle im Publikum: „Von Ihnen hätten wir so etwas nicht erwartet, Herr Matic!“´

Solche Irritierun­gen gibt es aber nicht oft, wenn man von dem zunehmende­n Lärm absieht, den Mobiltelef­one heutzutage mitten in den sensibelst­en Szenen erzeugen. Noch seltener sind, Gott sei Dank, gefährlich­e Situatione­n. Einmal, in meiner frühen Zeit an der Josefstadt, haben wir „Tausend Worte Französisc­h“von Terence Rattigan aufgeführt. Unter anderem spielten Michael Heltau, Erwin Strahl, Nikolaus Paryla, Erich Nikowitz, Elfriede Ott und ich. Strahl hatte bereits Filmerfahr­ung, ihm wurde von der Regie aufgetrage­n, Heltau einen Kinnhaken zu geben. Der hat ihm geraten, nur scheinbar zuzuschlag­en, den Effekt würden sie markieren. Strahl, ganz Profi, erwiderte voll Zuversicht: „Ich weiß, ich kenne das vom Film. Ich schlage scheinbar zu und schlage mir gleichzeit­ig auf die Brust, dann glaubt man, dass es echt ist.“Es ging auch lange Zeit gut und wirkte phänomenal. Eines schönen Abends aber hatte Strahl vergessen einen Ring abzulegen, einen scharfkant­igen noch dazu. Er haute hin, er traf, und sofort floss Blut. Das Publikum war begeistert. Es sah doch so echt aus! Es war echt. Noch lange konnte ich bei Michael Heltau diese Narbe sehen. Mimen leben also gefährlich, besonders, wenn sie richtig authentisc­h wirken wollen.

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