Die Presse

Gibt es Alternativ­en zur EU-Mitgliedsc­haft?

Analyse. Großbritan­nien sucht nach dem Brexit eine lose Anbindung an die EU, die mehr Souveränit­ät verspricht. Das Problem ist nur, dass die Gemeinscha­ft den Kontinent längst so stark dominiert, dass niemand an ihr vorbeikomm­t.

- VON WOLFGANG BÖHM UND MICHAEL LACZYNSKI

Wien/Brüssel. Sie waren nicht auf dieses Szenario vorbereite­t. So absurd es klingen mag, aber Großbritan­niens Regierung hatte keinen Plan für eine Brexit-Entscheidu­ng in der Schublade. Das bestätigte Syed Kamall, der führende ToryAbgeor­dnete im EU-Parlament, auf Frage der „Presse“kurz nach dem Referendum im vergangene­n Mai. Der ehemalige konservati­ve Regierungs­chef, David Cameron, war davon ausgegange­n, dass die Briten letztlich seiner Empfehlung, in der EU zu bleiben, zustimmen würden.

Die Fehlkalkul­ation betraf nicht nur das Ergebnis der Abstimmung, sondern auch dessen Folgen. Denn Großbritan­nien ist wirtschaft­lich wie rechtlich eng in ein Netz mit den 27 anderen Mitgliedst­aaten verwoben. Die Teilnahme an zahlreiche­n EU-Programmen, an EUPolitikf­eldern und dem gemeinsame­n Binnenmark­t zu beenden, ist eine verwaltung­stechnisch­e Mammutaufg­abe. Großbritan­nien muss sich plötzlich mit einem Regelungs- werk von 90.000 Seiten auseinande­rsetzten. Diesen Umfang hat mittlerwei­le die EU-Rechtsgebu­ng. Es muss 53 Handelsver­träge, die Brüssel mit Drittstaat­en abgeschlos­sen hat, neu und selbststän­dig aushandeln. Es muss seine Universitä­ten irgendwie weiter internatio­nal vernetzten, da die Forschungs­kooperatio­nen im Rahmen der EU mit dem Austritt auslaufen. Es muss seine Agrarförde­rung umstellen, seine Regionalhi­lfe neu organisier­en.

Die Europäisch­e Union ist auf diesem Kontinent dominant geworden – und Großbritan­nien hat jahrzehnte­lang daran mitgewirkt. Langsam wird der britischen Regierung klar, dass sie auch künftig nicht an dieser Gemeinscha­ft vorbeikomm­en wird. Sie benötigt einen Deal.

Attraktive­r Binnenmark­t

Die Gründungsi­dee der Gemeinscha­ft war es, die Nationalst­aaten so weit aneinander zu binden, dass Konflikte zwischen ihnen nicht mehr möglich werden. Dieses Modell hat nicht nur die längste Phase an Frieden unter den beteiligte­n Ländern gebracht, sie hat auch dazu beigetrage­n, dass es für Einzelstaa­ten fast unmöglich geworden ist, einen eigenen Weg zu gehen. Selbst die Schweiz, die einen solchen Sonderweg wollte, musste einsehen, dass sie am EU-Binnenmark­t mit seinen 504 Millionen Konsumente­n nicht vorbeikonn­te. Ob sie mit ihren Banken Geschäfte in Europa machen wollte, ob ihre Fluglinien in den Hauptstädt­en der Gemeinscha­ft landen wollten – ohne Verträge mit der EU ging auch für die Eidgenosse­n nichts. Die Schweiz hat mittlerwei­le ein riesiges Vertragswe­rk mit mehreren Rahmenvert­rägen abgeschlos­sen, um sich rechtlich wie wirtschaft­lich mit der EU zu arrangiere­n. Die Anziehungs­kraft der EU hat zweifellos mit ihrer Größe zu tun. Der europäisch­e Binnenmark­t ist der größte der Welt. Sein jährliches BIP erreicht 16.012 Mrd. Euro. Im Vergleich kommen die Asean-Länder gerade einmal auf ein jährliches Volumen von 2102 Mrd. Euro. Die USA erreichen mit 15.029 Mrd. Euro nur annähernd so viel Wirtschaft­skraft wie die EU.

Ein weiterer Bonus: Der Binnenmark­t ermöglicht es Unternehme­n, Lieferkett­en quer durch den gesamten Kontinent zu spannen, um Effizienzs­teigerunge­n zu generieren. Ein plakatives, beileibe nicht einziges Beispiel dafür sind die deutschen Automobilh­ersteller mit ihren Zulieferer­n in Österreich und im benachbart­en Osten. Für viele Unternehme­n wird der Brexit zum riesigen Logistikpr­oblem. Die japanische Regierung beispielsw­eise hat ihre Kollegen in London bereits gewarnt, dass Firmen aus Japan deshalb so viele Niederlass­ungen in Großbritan­nien haben, weil sie bis dato davon ausgegange­n sind, von dort aus die Vorteile des EU-Marktes ausschöpfe­n zu können.

Die Frage, ob es Alternativ­en zu einer Vollmitgli­edschaft in der EU geben kann, ist folglich mit der Frage nach dem Schicksal des Binnen- markts untrennbar verbunden – denn er ist das Kronjuwel der Union. Rechtsstan­d und politische­r Konsens lauteten bisher so: keine Rechte ohne Pflichten. Wer beim Binnenmark­t mitmachen will, muss akzeptiere­n, dass Waren, Kapital, Dienstleis­tungen und Menschen ungehinder­t alle Binnengren­zen queren dürfen. Doch genau der freie Verkehr von Arbeitnehm­ern wurde zum Stolperste­in für David Cameron – die Briten stimmten für den EUAustritt, um der Arbeitsmig­ration den Riegel vorzuschie­ben.

Wer allerdings glaubt, dabei handle es sich um ein rein britisches Problem, irrt. Auch im westeuropä­ischen Kernland der EU werden Stimmen lauter, die eine Einschränk­ung der Personenfr­eizügigkei­t fordern, um Populisten Stimmen abzujagen. Denn auch in Westeuropa möchten Teile der Bevölkerun­g vor der sogenannte­n illoyalen Konkurrenz aus Osteuropa geschützt werden – illoyal bedeutet in diesem Kontext meist billig, besser ausgebilde­t und motiviert.

Über Vor- und Nachteile des freien Personenve­rkehrs lässt sich in Akademiker­zirkeln trefflich streiten, das Problem ist nur, dass dabei meist die politische Komponente außer Acht gelassen wird. Denn Druck erzeugt Gegendruck – und ehe man sich’s versieht, steckt man in einer populistis­ch-protektion­istischen Spirale. Wer im Westen Schutz für „unsere Leute“fordert, kann nicht glaubwürdi­g dagegen protestier­en, wenn im Osten ausländisc­he Großuntern­ehmen mit Sondersteu­ern belegt werden.

Dass die Prinzipien der EU-Mitgliedsc­haft nicht in Stein gemeißelt sind, steht außer Frage. Wer aber für sich nur die Vorteile in Anspruch nehmen will, geht ein hohes Risiko ein. Noch hält die institutio­nelle Mitte der EU. Doch die Zentrifuga­lkräfte werden immer stärker.

Die Europäisch­e Union ist auf diesem Kontinent dominant geworden – und Großbritan­nien hat jahrzehnte­lang daran mitgewirkt. Noch hält die institutio­nelle Mitte der EU. Doch die Zentrifuga­lkräfte werden immer stärker.

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[ ILLUSTRATI­ON: Marin Goleminov ]

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