Oslo: Ein bisschen drinnen, ein bisschen draußen
Sonderweg. Norwegen ist kein EU-Mitglied, nimmt aber am Binnenmarkt teil. Mitbestimmen darf man wenig, zahlen aber viel. Ist das ein Modell für London? Oslo warnt davor.
Als die Briten vor Monaten immer ernsthafter nachzudenken begannen, ob sie tatsächlich der EU den Rücken kehren sollten oder nicht, gab es ein Land außerhalb der Union, das vehement vor einem Brexit warnte – Norwegen. Mehrere Minister aus dem skandinavischen Staat äußerten sich kritisch zu den britischen Überlegungen; Ministerpräsidentin Erna Solberg reiste sogar höchstpersönlich nach London und warnte Regierung und Bürger vor diesem Schritt. „Macht es nicht so wie wir“, war die Botschaft.
Im Zuge der Brexit-Debatte wurde immer wieder Norwegen als mögliches Modell angesprochen. Aus britischer Sicht hat es zwei große Vorteile: Norwegen ist kein Mitglied der EU, es hat aber dennoch über die Efta (Europäische Freihandelsassoziation) Zugang zum Europäischen Wirtschaftsraum. Allerdings wird die andere Seite oft übersehen: Oslo muss sich an die EU-Regeln halten, es muss nicht wenig zahlen und das, ohne selbst mitbestimmen zu kommen. „In der EU habt ihr mehr Einfluss“, sagten norwegische Politiker ihren britischen Kollegen.
Gewiss, die Warnungen waren nicht ganz uneigennützig. Denn falls die Briten doch noch das Modell Norwegen wählen sollten und daran denken, in die Efta zurückzukehren, um so den EWR zu nutzen, würde das die Balance in dem kleinen Klub verschieben. „Kein guter Gedanke“, so Oslos EUMinisterin, Elisabeth Vik Aspaker. Bisher war es so, dass Norwegen, Island und Lichtenstein jeder EWR-Neuerung gemeinsam zugestimmt haben. Die große Macht Großbritannien könnte aber andere Interessen haben und so das Gleichgewicht stören.
Startschuss in den Sechzigern
Der Sonderweg Norwegens hat in den Sechzigerjahren begonnen. 1962 und 1967 wurde ein Antrag auf Mitgliedschaft in der (damaligen) EG gestellt. Als aber Frankreich sein Veto gegen die Mitgliedschaft Großbritanniens einlegte, das gleichzeitig mit Norwegen beitreten wollte, wurde auch der norwegische Beitrittsantrag nicht weiter verfolgt. Weitere Anläufe gab es dann 1972 und 1994, doch da wurde der Beitritt von den Bürgern in Volksabstimmungen abgelehnt; ganz knapp übrigens. Und so war Oslo gezwungen, im letzten Moment den Beitrittsantrag zurückzuziehen. Seither ist das Thema kein Thema mehr und in Norwegen spricht keiner mehr ernsthaft über einen EU-Beitritt.
Doch Norwegen ist Mitglied der Freihandelszone Efta (1960 als Gegenstück zur EG gegründet) und über die Efta nimmt es am Binnenmarkt teil. 1992 wurde der EWRVertrag (Europäischer Wirtschaftsraum) unterzeichnet, 1994 trat er in Kraft. Der Vertrag gilt für alle EU-Länder sowie die Efta-Mitglieder Norwegen, Island und Liechtenstein, mit Ausnahme der Schweiz. Zentral ist dabei das Prinzip der vier Freiheiten. Das sind der freie Warenaustausch über Landes- grenzen hinweg, die Bewegungsfreiheit für Arbeitnehmer, freier Dienstleistungsverkehr und freier Verkehr des Kapitals. Auch bei den Themen Umwelt, Forschung, Kultur, Bildung, Soziales wird eng zusammengearbeitet. In der Praxis hat die Kooperation für Norwegen vor allem in der Wirtschaft große Vorteile, zirka 80 Prozent des norwegischen Exports gehen in EU-Länder. 60 Prozent der Importe kommen aus der EU.
Doch die andere Seite des Abkommens sieht so aus: Norwegen hat innerhalb der EU in den entscheidenden Organgen kein Stimmrecht. Oslo akzeptiert auch einen Großteil der EU-Gesetze. „Wir übernehmen im Schnitt an jedem Parlamentstag fünf neue EU-Gesetze“, erklärte Ex-Europaminister Vidar Helgesen im Frühjahr in einer Rede in London. Bisher seien etwa 10.000 EU-Verordnungen in nationales Recht umgesetzt worden. Inhaltlich greifen die Regeln in alle Bereiche ein: das reicht von Außenpolitik, Gesundheitswesen über die Sicherheitspolitik bis zur Regional-, Alkohol- und Gleichstellungspolitik.
Und billig ist die Regelung für Norwegen auch nicht gerade. Oslo zahlt in verschiedene Kassen der Europäischen Union ein. Das Geld fließt in zwei Fonds und ist dazu gedacht, soziale und ökonomische Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedern auszugleichen, in Summe sind dies nach offiziellen Angaben umgerechnet jährlich 388 Mio. Euro. Zusätzlich kommen knapp 450 Mio. Euro für Programme, an denen Oslo teilnimmt. Norwegen ist damit unter den Efta-Ländern der mit Abstand, nämlich mit 97 Prozent, größte Spender.
Doch die Norweger leben mit dem teure Modell „ein bisschen EU ohne Möglichkeit der Mitbestimmung“ganz gut. Zum 20-Jahr-Jubiläum „Norwegen im EWR“hat ein Dutzend Experten einen 900 Seiten starken Untersuchungsbericht veröffentlich. „Der EWR war extrem vorteilhaft für Norwegen“, fasste Rechtsprofessor Fredrik Sejersted den Bericht zusammen.
Die Norweger können es sich leisten
Dass das Land so gelassen die Abhängigkeit von Brüssel hinnimmt, hat vor allem auch mit seiner wirtschaftlichen Lage zu tun: Man kann es sich leisten. Denn die Öl- und Gasvorkommen, die Ende der Sechzigerjahre vor der Küste entdeckt wurden, machten das Land reich. Es ist der Flächenstaat mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt je Einwohner. Während anderswo über hohe Schulden geklagt wird, hat Norwegen 850 Mrd. Euro im Staatsfonds geparkt.
Bisher hat es auch gut funktioniert, dass Norwegen seit Einführung der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit 2004 mehr Arbeitsmigranten aus EU-Mitgliedsländern aufgenommen hat als jedes andere Land. Das wurde jahrelang akzeptiert und hat auch der Wirtschaft genutzt. Doch die Eurokrise und der Andrang der Flüchtlinge haben bei vielen Bürgern Skepsis hervorgerufen. Fazit: Die Norweger leben ganz gut mit dem System, näher ranlassen wollen sie die EU aber auch nicht.