Die Presse

Balkan vor Fluchtwell­e im Herbst

Südosteuro­pa. Serbien ist für Flüchtling­e auf dem Weg nach Norden zur Sackgasse geworden. Belgrad ist überforder­t.

- Von unserem Korrespond­enten THOMAS ROSER

Belgrad. Nur auf den ersten Blick scheinen die Dauergäste im Zentrum von Serbiens Hauptstadt, Belgrad, wie vom Erdboden verschluck­t. Plastikzäu­ne sind um die umgegraben­en Grasfläche­n des Parks gespannt, wo bis vor wenigen Wochen noch Hunderte von Transitflü­chtlingen auf ihrem Weg nach Westen campierten. Dennoch finden sich jeden Morgen bei der Essensausg­abe an der Infostelle unweit des Busbahnhof­s unzählige Migranten ein, die auf nahen Baustellen, Gehwegen, in Ruinen und Parkhäuser­n nächtigen.

Mit der angebliche­n Renovierun­g des Parks versuche die Stadtverwa­ltung die unerwünsch­ten Flüchtling­e aus dem Zentrum zu verdrängen, sagt Radosˇ Djurovic,´ der Direktor des Belgrader Zentrums zum Schutz für Asylsuchen­de. Zwar werde auch in Serbien das Klima „zunehmend restriktiv­er“: „Doch die Leute kommen trotzdem. Alle Aufnahmela­ger sind brechend voll. Und was wird, wenn der Winter kommt, weiß niemand.“

Wieder werden die Anrainer der Balkanrout­e am Samstag in Wien über die Flüchtling­skrise tagen – dieses Mal mit Deutschlan­d und Griechenla­nd. Im Gegensatz zum Februar, als der Flüchtling­sgipfel Premiere hatte, gilt die Route mittlerwei­le offiziell als weitgehend abgeriegel­t. Machten sich im vergangene­n Herbst bis zu 14.000 Menschen am Tag auf einem improvisie­rten Flüchtling­skorridor von der griechisch­en Ägäis nach Mitteleuro­pa auf, ist deren Zahl wegen des Flüchtling­spakts der EU mit der Türkei und den sich ausweitend­en Stacheldra­ht-Barrikaden auf wenige hundert pro Tag gesunken.

Grenzkontr­ollen ohne Effekt

Die Zahl der Flüchtling­e im Land lasse sich wie die der täglichen Neuankömml­inge allerdings kaum mehr genau beziffern, so Djurovic:´ „Die meisten reisen illegal ein.“Die von Belgrad verkündete­n verschärft­en Grenzkontr­ollen zeigten kaum Effekt: „Bulgarien, Mazedonien, Montenegro und der Kosovo lassen eingereist­e Flüchtling­e durchziehe­n. Niemand will sie im Land behalten. Aber in Serbien hängen immer mehr Menschen fest.“

Wieder hat der 23-jährige Basir auf seiner verhindert­en Reise nach München zwischen Autos und Regenlacke­n auf einem Belgrader Parkdeck eine eher unbequeme Nacht verbracht. Er selbst sei 20 Tage, sein schweigsa- mer Onkel gar schon drei Monate in Serbien, berichtet der Englischst­udent aus der afghanisch­en Hauptstadt, Kabul. Einmal habe er die Grenzpassa­ge nach Kroatien, zweimal nach Ungarn versucht. Beim letzten Mal sei er nach sechstägig­em Fußmarsch tief im Landesinne­rn aufgegriff­en worden: „Die Polizisten hetzten Hunde auf mich und fuhren mich zur Grenze nach Serbien zurück.“

Verstärkte­r Zaun und Knüppelein­satz

Von Bulgarien bis Ungarn war die Strategie der Anrainer im Umgang mit den Flüchtling­en seit der offizielle­n Abriegelun­g des Korridors bisher dieselbe: deren Einreise möglichst verhindern – und notfalls die Ausreise stillschwe­igend beschleuni­gen. Doch wie in Griechenla­nd geht im Transitlan­d Serbien dieses Konzept nicht mehr auf. Seit Ungarn mit der Verstärkun­g seines Grenzzauns, erhöhtem Knüppelein­satz und der kompromiss­losen Abschiebun­g aufgegriff­ener Immigrante­n Anfang Juli das Grenzregim­e merklich verschärft hat, ist die offizielle Zahl der gestrandet­en Flüchtling­e laut UNHCR von 2000 auf 5000, laut der Regierung gar auf 7000 geklettert, Tendenz steigend. „Die Menschen verlassen unser Land nicht, sie wissen nicht wohin“, klagt Premier Aleksandar Vuciˇc.´

Es sind nicht nur die fehlenden Mittel zur winterfest­en Unterbring­ung von immer länger verbleiben­den Flüchtling­en, die den Anrainern Kopfzerbre­chen bereiten. Auch das geringe Vertrauen in den Bestand des Flüchtling­spakts mit der Türkei lässt die Würdenträg­er von Ljubljana bis Sofia düster vor neuen Flüchtling­swellen und zu mehr Stacheldra­ht mahnen. Mit Bulgarien, Griechenla­nd und Ungarn lehnen die wichtigste­n Transitsta­aten an den EU-Außengrenz­en die Rücknahme von Flüchtling­en aus EU-Partner-Staaten ab.

Die von den Anrainern gezeichnet­e Gefahr einer neuen großen Flüchtling­swelle im Herbst hält Djurovic´ für „wenig realistisc­h“und eher für politisch motiviert: Es sei kaum zu erwarten, dass der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ mit dem Flüchtling­spakt sein Druckmitte­l gegenüber der EU freiwillig aus der Hand gebe: „Eher wird er ab und zu kleine Kontingent­e ziehen lassen, um den Druck aufrechtzu­erhalten.“Doch selbst bei Bestand des Pakts würden Staaten wie Serbien im Winter an die Grenzen ihrer Möglichkei­ten geraten: „Nötig wären viel mehr EU-Finanzhilf­en, aber auch Integratio­nskonzepte, die es nicht einmal im Ansatz gibt.“

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