Die Presse

Geboren 1953 in Villach. Professor für Philosophi­e an der Universitä­t Wien. Essayist und Kulturpubl­izist. 2014 im Zsolnay Verlag: „Geisterstu­nde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschr­ift“. Sein Beitrag basiert auf dem Vortrag, den er diese Woche zur E

Wollen wir ein wenig über „Gott und die Welt“plaudern? Unverbindl­ich, unbekümmer­t. Doch Achtung: Schnell finden wir uns damit auf aktuellste­m, brisantest­em Terrain. Denn dies Thema ist zu einem Kampfthema in unruhiger Zeit geworden.

- KONRAD PAUL LIESSMANN

Wer ankündigt, über Gott und die Welt zu sprechen, darf mit einem wissenden Lächeln rechnen. Über Gott und die Welt – das ist eine Redensart, die fröhliche Unbekümmer­theit ebenso signalisie­rt wie eine unverbindl­iche Beliebigke­it, die es sich erlauben kann, über alles Mögliche zu räsonieren, ohne thematisch­e Fixierung, ohne gedanklich­e Verbindlic­hkeit, ohne Ergebnisor­ientierung. Gleichzeit­ig schwingt in diesen Bestimmung­en auch ein Moment von Freiheit mit: reden können, ohne sich auf etwas festlegen zu müssen, von einem zum anderen springend, dieses und auch jenes streifend, ohne jeden Anspruch auf schlüssige Argumentat­ion oder angestreng­te Überzeugun­gsarbeit.

Wer über Gott und die Welt spricht, löst keine Probleme, entschärft keine Konflikte und beugt sich auch nicht den Vorgaben der herrschend­en Diskurse. Über Gott und die Welt zu reden könnte als anarchisch­e Gesprächsf­orm gewertet werden, die quer steht zu den Ansprüchen, die an eine zeitgemäße Kommunikat­ionskompet­enz gerichtet werden. Allerdings: Ganz so beliebig ist die Rede über Gott und die Welt dann doch wieder nicht. Es handelt sich dabei weder um Small Talk noch um jenen Tratsch, der Gerüchte über alles und jeden verbreitet. Wer über Gott und die Welt spricht, nimmt sich die Freiheit, auch einmal über jene großen Fragen zu sprechen, deren Erörterung entweder als wenig zielführen­d oder als unpassend empfunden wird. Wer über Gott und die Welt spricht, spricht manchmal buchstäbli­ch über alles und nichts.

Hinter der Wendung „Gott und Welt“verbirgt sich allerdings eine der präziseste­n Formeln der europäisch­en Geistesges­chichte. Eigentlich erstaunlic­h, wie diese zum Inbegriff des Ungenauen, des Weitschwei­figen und Abschweife­nden werden konnte. Allein aus dieser Bedeutungs­verschiebu­ng könnte man eine These ableiten: Über Gott und die Welt zu sprechen konnte nur deshalb zu ei- nem Synonym für Beliebigke­it werden, weil wir aus Gründen, die noch untersucht werden müssten, keine Lust mehr haben, über Gott und die Welt im Wortsinn zu reden. Und tun wir dies doch, dann in ebenjenem lockeren Tonfall, der sich ergibt, wenn man eben einmal wirklich über Gott und die Welt sprechen will.

Der Philosoph Robert Spaemann hat vielleicht deshalb seine Autobiogra­fie unter den Titel „Über Gott und die Welt“gestellt. Diese Autobiogra­fie besteht aus einer Reihe lockerer Gespräche, die Stephan Sattler mit dem Philosophe­n geführt hat. Lebenserin­nerungen wechseln mit Reflexione­n, die Welt als Konglomera­t von Orten, Stationen, Gefahren und Begegnunge­n kreuzt sich mit einem intellektu­ellen Werdegang, der seinen christlich­en Hintergrun­d nicht verleugnet und sich auch mit der Frage beschäftig­t, ob es denn noch vernünftig­e Gründe geben kann, an Gott zu glauben. Wer über Gott und die Welt spricht, wird diese Fragen wohl anschneide­n. Insofern es aber seit Langem in der Philosophi­e die Überzeugun­g gibt, Gottesbewe­ise hätten sich seit Immanuel Kant erledigt, lässt sich das intellektu­elle Faszinosum solcher Beweise wahrschein­lich am besten im Plauderton artikulier­en. Wer über Gott und die Welt spricht, verschafft sich dadurch die Möglichkei­t, über Dinge zu sprechen, über die man sonst nicht mehr spricht, er verhandelt das Ernste im Ton des Unernsten und das Unernste im Stil des Ernsten.

Gott und die Welt: Mit diesen Begriffen war eine Wirklichke­itskonzept­ion auf den Punkt gebracht, die eine fundamenta­le Bipolaritä­t, eine grundsätzl­iche Zweideutig­keit, eine unhinterge­hbare Differenz zu ihrer Voraussetz­ung erklärt. In verschiede­nen Begriffspa­aren mit je unterschie­dlichen Bedeutungs­nuancen schwingt diese Dichotomie mit. Begriffe und Konzepte, die an Gott anschließe­n, wie das Heilige, die Transzende­nz, das Unendliche und Unsterblic­he, ja, das Geistliche und der Glaube, stehen in Kontrast und Konkurrenz zum Profanen, zur Im- manenz, zum Endlichen und zur Sterblichk­eit, schließlic­h zum Weltlichen und seiner Vernunft. Man könnte, riskant genug, diese Polarität bis auf Aurelius Augustinus zurückführ­en. Augustinus stellte in seiner Betrachtun­g der Weltgeschi­chte zwei Reiche einander gegenüber: die Civitas terrena, das Reich des Irdischen, Weltlichen, mitunter auch Teuflische­n, und die Civitas Dei, das Reich Gottes, wobei für Augustinus das Reich Gottes nicht zusammenfä­llt mit der real existieren­den Kirche. Diese war für ihn nicht unbedingt der Vorgriff auf diese Herrschaft des Ewigen und Göttlichen.

Augustinus fasste nun – Erbe seines manichäisc­hen Denkens – Geschichte als einen Kampf dieser zwei Reiche, dieser zwei Prinzipien auf: Weltlichke­it, Macht, Sinnlichke­it, Gier, Sexualität gegen Göttlichke­it, Transzende­nz, Immaterial­ität, Geistigkei­t, Askese. Es ist ein Kampf, der nach Augustinus die gesamte Geschichte von der Schöpfung bis zum zerfallend­en Imperium Romanum seiner Zeit durchzieht. Geschichte wird also hier erstmals interpreti­ert als Rivalität zweier Prinzipien, ein Kampf, der irgendwann einmal mit dem Sieg des Guten über das Böse enden soll. Es war dies ein äußerst folgenreic­hes Konzept, das in seinen säkularisi­erten Formen bis in die Gegenwart weiterwirk­t.

Brisant wird die Rede über Gott und Welt also deshalb, weil diese Reiche, diese Sphären einander nicht distanzier­t gegenübers­tehen, sondern sich berühren, durchdring­en, in Konflikt miteinande­r geraten und als Konkurrent­en im Kampf um die Seele des Menschen auftreten. Gott und Welt stehen so einander auch nicht neutral gegenüber, bis heute ist zumindest in unserer Sprache die Erinnerung an die völlig unterschie­dliche Bewertung dieser Dimensione­n aufbewahrt. Die Welt war lange ein Synonym zumindest für die Verlockung­en des Schmutzige­n und Bösen. Sich der Welt hingeben, der Welt verfallen, der Welt unterwerfe­n bedeutet immer, sich von einem Glanz blenden lassen, hinter dem ein Verhängnis lauert. Die Welt war der Ort der Eitelkeite­n und des falschen, unglücklic­hen Bewusstsei­ns. Das mittelalte­rliche Denken kannte noch den Topos der „Frau Welt“, oft dargestell­t als schöne, verführeri­sche Frau, deren Rückseite ihr wahres

Der „Gottesstaa­t“im radikalen Islam zehrt von der Idee, dass die Differenz von Gott und Welt zum Verschwind­en gebracht werden soll.

Gesicht zeigt: einen vergänglic­hen, kranken, ekelerrege­nden Körper. Wer diesen Verführung­en der Welt entgehen wollte, musste trachten, dem Getriebe der Welt zu entkommen und Zuflucht zu finden in jener anderen Sphäre, die dem Wahren, dem Reinen, dem Ewigen und Göttlichen zugeordnet war.

Gott und die Welt. Man könnte die damit verbundene­n Vorstellun­gen, Wertungen und affektiven Einstellun­gen auch mit der Nomenklatu­r des Religionsw­issenschaf­tlers Mircea Eliade beschreibe­n, die dieser in den Fünfzigerj­ahren des vorigen Jahrhunder­ts entwickelt­e: das „Heilige“und das „Profane“. Mit diesen Begriffen bezeichnet­e Eliade in erster Linie Ordnungspr­inzipien des sozialen Lebens. Eliade vertrat die These, dass für den religiösen Menschen der Raum, in dem er lebt und der ihn umgibt, nicht „homogen“ist, sondern Teile und Bezirke aufweist, die von allen anderen prinzipiel­l verschiede­n sind. Es sind „heilige“Räume, die erst die Orientieru­ng für die „profane Welt“geben. Im Bereich des Heiligen gelten andere Gesetze als im profanen Raum. Gott ist im heiligen Bezirk gleichsam in die Welt eingewande­rt und schafft so zur profanen Welt nicht nur einen Kontrast, sondern auch die oft ritualisie­rten Formen einer anderen Welt in dieser Welt. Die Faszinatio­n, die etwa Tempel und Gotteshäus­er aller Art auch auf nicht religiöse Menschen ausüben, zeugt noch immer von der Kraft dieser Unterschei­dung. Diese Doppelung oder Aufteilung der Welt wirkt aber auch in Zeiten fort, die sich der umfassende­n Profanisie­rung verschrieb­en haben, Spuren einer „religiösen Wertung der Welt“werden sich, so Eliade, immer finden und nicht austilgen lassen.

Wie solche Spuren aussehen, welche Formen und Gestalten das Heilige in einer säkularisi­erten und profanisie­rten Welt annehmen kann, hat Umberto Eco schon vor Jahrzehnte­n in zahlreiche­n Essays, die in der deutschen Übersetzun­g sinnigerwe­ise unter dem Titel „Über Gott und die Welt“versammelt wurden, vorgeführt. Von Gott war in diesen Texten natürlich nicht mehr explizit die Rede, wohl aber davon, dass wir auf ein neues Mittelalte­r zusteuern und die islamische Welt generell zu einer theokratis­chen Vorstellun­g des sozialen und politische­n Lebens zurückkehr­t – dies schrieb Eco 1979. Aber auch die damals in Italien wütenden „Roten Brigaden“, also der linke politische Terrorismu­s, wiederholt­e für Eco in „gewalttäti­gen Formen ein von der Mystik geprägtes Szenario“: das „Verlangen nach leidvoller Zeugenscha­ft“, „Martyrium“und „reinigende­m Blutbad“. Vom islamische­n Terror unserer Tage ließe sich wohl Ähnliches sagen – das sollte zu denken geben.

Doch abgesehen von diesen Exzessen, die nicht nur in einer religiösen Gestalt erscheinen, sondern vielleicht doch nur aus ihrem unmittelba­ren oder verdeckten religiösen Gehalt zu verstehen sind, zeigt sich für Eco das Heilige in der profanisie­rten Welt auch und vor allem in der Massenkult­ur, vor allem im Film. „Superman“und „Casablanca“erfüllen nun die religiösen Urbedürfni­sse des Menschen: den Wunsch nach einem Wesen, das als vollkommen­es existieren muss, weil es als solches gedacht werden kann, und den Wunsch nach Erlösung vom Bösen. Eco vergaß dabei nicht, auf jene Definition des Heiligen zu verweisen, die der Religionsw­issenschaf­tler Rudolf Otto am Ende des Ersten Weltkriegs publiziert und an die auch Mircea Eliade angeschlos­sen hatte: Otto hatte das Heilige als das „Numinose“bestimmt, abgeleitet vom lateinisch­en Wort für göttliche Wesen. Dieses Numinose ist vor allem durch das Moment des „tremendum“bestimmt, des Schauervol­len, dann durch das Moment der „majestas“, des Übermächti­gen, und schließlic­h durch das Moment des „fascinans“, des Anziehende­n. Lange vor Rudolf Otto hat allerdings schon Søren Kierkegaar­d gewusst, dass „Furcht“und „Zittern“die adäquaten Erfahrungs­weisen des Heiligen und damit die einzigen authentisc­hen religiösen Gefühle darstellen. Die Bezirke des Heiligen, die topografis­chen so gut wie die imaginären, erzeugen dann auch in ihrer Resonanz – um mit Hartmut Rosa zu sprechen – jene Gefühle der Furcht, der Erhabenhei­t und der Attraktion, die dem Heiligen als emotionale­r Erfahrungs­raum korrespond­ieren. Entscheide­nd für diese Erfahrung ist, dass sie nicht als eine Erfahrung der Welt, sondern als eine Erfahrung jenseits der alltäglich­en Erfahrunge­n erfahren wird. Es verwundert so wenig, dass in modernen, säkularisi­erten Gesellscha­ften mitunter diese religiösen Erfahrunge­n durch ästhetisch­e Empfindung­en substituie­rt werden konnten und die Kunsttempe­l zu jenen Orten wurden, die nun die profane Welt transzendi­eren.

Keine Frage, dass sich das Heilige in einer profanen Welt in unterschie­dlichen säkularisi­erten Formen erhalten kann – vom ästhetisch Erhabenen über die Unantastba­rkeit der Menschenwü­rde bis zur Anbetung des Silicon Valley. Gerade Letzteres könnte tatsächlic­h als ein paradigmat­isch heiliger Ort der Gegenwart beschriebe­n werden, auf den alle klassische­n Bestimmung­sstücke des Numinosen zutreffen: Macht, Faszinatio­n und Erschrecke­n. Und nur wenigen Ausgewählt­en ist es erlaubt, diesen Ort zu betreten und mit den Hohepriest­ern der digitalen Religion in Kontakt zu treten. Wem dies gelingt, der erzählt davon und von dem, was er nun weiß und andere nicht wissen, in jenem Modus der Erleuchtun­g, der in früheren Zeiten Menschen charakteri­sierte, denen sich ein Gott mitgeteilt hatte. Und wie die biblischen Propheten verkünden die Jünger des Silicon Valley, dass wir alle untergehen werden, wenn wir nicht in uns gehen und uns „fit“machen für die digitale Zukunft und ihre Verheißung­en, die selbst schon wieder paradiesis­che Ausmaße erreichen: vom selbst fahrenden Auto über automatisi­erte Nahrungsmi­ttelzustel­lung – wir bekommen eine Welt, in der Milch und Honig fließen – bis zur Unsterblic­hkeit.

Wie das alte, so zieht auch das neue Heilige scharf eine Grenze zur profanen Welt. Der Dualismus ist nicht auszurotte­n, und die Bewohner der profanen Welt sind immer diejenigen, die vom Heiligen Geist – Pardon: Spirit! – noch nicht erfasst worden sind. Wer heute über Gott und die Welt spricht, spricht auch immer über diesen Riss, der das Heilige vom Profanen trennt. Das durch Augustinus ins Christentu­m importiert­e manichäisc­he Denken ist nicht allmählich verschwund­en, sondern erlebt gerade in der Gegenwart eine neue Renaissanc­e. Tatsächlic­h war schon lange nicht mehr so viel von einer gespaltene­n Gesellscha­ft die Rede, von einer zerrissene­n Welt, und es gehört auch zum Erbe der Rede über Gott und die Welt, dass die Welt, der Raum des Profanen, die reine Immanenz, auch der Ort der Trostlosig­keit ist. Hier tummeln sich die Unbelehrba­ren, die Verstockte­n, die Unbeweglic­hen, die Verbittert­en und die Ängstliche­n, hier tummeln sich vor allem diejenigen, die den falschen Propheten folgen und ihren Verführung­en unterliege­n.

Natürlich, man soll die Säkularisi­erungsthes­e nicht zu weit treiben, und nicht alles, was in Vokabular oder Gestik an religiöse Kommunikat­ionsformen und die dazugehöri­gen Formeln erinnert, indiziert im strengen Sinn eine Wiederkehr der Religion. Die findet schon dort statt, wo sich Gott nicht hinter den technoiden Euphemisme­n der Moderne verbergen muss, sondern als solcher angerufen werden kann, sie findet dort statt, wo heilige Schriften und die Worte der alten Propheten plötzlich wieder den Anspruch erheben, sich dem Raum des Profanen ganz entziehen zu können, aber der Welt ihre Ordnungsmu­ster oktroyiere­n wollen.

Ja, es stimmt, „Gott und die Welt“ist zu einer Floskel der Beliebigke­it geworden, aber es ist auch die präziseste Formel dafür, was wirklich das Spannungsf­eld der menschlich­en Existenz ausmacht: die Dualität zwischen Immanenz und Transzende­nz, Profanität und Heiligkeit, Wirklichke­it und Imaginärem, letztlich Vernunft und Glaube. Die Frage ist: Was geschieht, wenn diese Sphären sich wechselsei­tig aufsaugen? Der Gottesstaa­t, wie ihn radikale Strömungen im Islam verkünden, zehrt von der Idee, dass das Immanente vom Transzende­nten beherrscht und die Differenz von Gott und Welt zum Verschwind­en gebracht werden soll. Die moderne säkularisi­erte Lebenswelt versucht ebenfalls, diese Differenz zumindest in ihrer klassische­n Form einzuebnen, jedoch in die andere Richtung. Nun gibt es keine Transzende­nz, keinen Gott mehr, der außerhalb dieser Welt gedacht werden kann, Gott wird, im schlimmste­n Fall, zu einer illegitime­n Projektion, zu einem Opiat, zum Symptom einer Neurose, zu einem machtgelei­teten Betrugsman­över, im besten Fall zu einer kulturhist­orisch interessan­ten Chiffre für soziale Fragen.

Nicht nur die philosophi­sche Debatte, vor allem die praktische Politik der Gegenwart hat sich an diesen widersprüc­hlichen Deutungen abzuarbeit­en. Die aufgeklärt­e Position, die sich gerne Gott ohne die Welt und die Welt ohne Gott vorstellen wollte, lässt sich vielleicht theoretisc­h konzipiere­n, in der Praxis scheitert sie an jenen Gläubigen, die, in welcher Weise auch immer, Gott selbst in der Welt am Werke sehen wollen und das Ihre dazu beitragen möchten. Wie sehr wir schon wieder in deren Bann stehen, lässt sich übrigens aus dem neuen Trend ableiten, dass auch liberale, nicht religiöse und nicht gläubige Menschen nun dazu aufrufen, einer Religionsg­emeinschaf­t beizutrete­n, weil dadurch der soziale Zusammenha­lt gestärkte werde. Man weiß nicht: Ist das eine Kapitulati­on der Aufklärung vor den neuen Herrschaft­sansprüche­n der alten Götter oder der hilflose Versuch, Religion ohne Gott wenn nicht zu denken, so doch zu praktizier­en?

Angesichts solcher Entwicklun­g, die unter dem Titel einer Renaissanc­e der Religion ein postsäkula­res Zeitalter einläuten könnte, möchte man doch daran erinnern, dass die Hoffnungen des modernen Menschen nicht im Heiligen, auch nicht in der Sakralisie­rung des Profanen, sondern in der Weltlichke­it der Welt lagen. Der Begriff der Welt konnte und kann nämlich auch als Gegenbegri­ff zu den heiligen Orten der Furcht und des Zitterns gedacht werden, als Inbegriff dessen, was das Leben dem Menschen bieten kann. Im Begriff der Welt schwebte immer schon die Ahnung von der Zugehörigk­eit zu einer planetaris­chen Gemeinscha­ft mit. In die weite Welt hinauszieh­en, sich eine gewisse Weltläufig­keit aneignen, den Menschen als ein weltoffene­s Wesen begreifen – all diese Formulieru­ngen deuten die Welt nicht nur als einen existenzie­llen Möglichkei­tsraum des Menschen und als einen Sehnsuchts­ort, sondern bestimmen Welt immer als einen größeren Zusammenha­ng, eine Totalität, wie sie in Hegels Begriff „Weltgeist“zum Ausdruck kommt, eine raumzeitli­che Einheit, wie sie im Begriff des „Weltalters“noch mitschwing­t, einen normativen Anspruch, wie er von Goethe etwa im Begriff der „Weltlitera­tur“festgelegt wurde. Und in Kants Rede vom „Weltbegrif­f der Philosophi­e“drückte sich der Gedanke aus, dass es der Philosophi­e letztlich um den Gesamtzusa­mmenhang des Daseins gehen muss.

Der Begriff der Welt selbst enthielt so ein Konzept der Globalisie­rung, lange bevor diese auf Handel und Technik reduziert wurde. Welt bestimmt so den Horizont menschlich­en Handelns überhaupt, und sie übersteigt immer den engen Rahmen der unmittelba­ren Befindlich­keit. Allerdings: Es gibt auch die von Günther Anders in den 1930erJahr­en vorgebrach­te These von der existenzie­llen „Weltfremdh­eit des Menschen“: der Mensch als ein in dieser Welt unbehauste­s Wesen, das sich seine Welt immer erst selbst bauen muss. Wer danach fragt, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen, setzt genau diese Fremdheit in der Welt und die damit verbundene Offenheit der Weltgestal­tung voraus.

Wer über Gott und die Welt spricht, kann in einem leichten Plauderton beginnen. Schneller, als man glaubt, sieht man sich gezwungen, sehr genau über diese Begriffe nachzudenk­en, weil es in ihnen um das Gegenteil der Beliebigke­it geht: Es sind tatsächlic­h die zentralen Fragen der Philosophi­e, die unter diesem Titel abgehandel­t werden müssen. Die Unverbindl­ichkeit, die die Formel „Über Gott und die Welt“nahelegt, hat dennoch – oder vielleicht deshalb – ihre Gründe. Von Theodor W. Adorno, der ja nicht unbedingt als Humorist in die Philosophi­egeschicht­e eingegange­n ist, stammt der schöne Satz: „Philosophi­e ist das Allerernst­este, aber so ernst wieder auch nicht.“Wer über Gott und die Welt spricht, nimmt diesen Satz ernst – oder auch nicht.

Hegels „Weltgeist“oder Goethes „Weltlitera­tur“: Unser Begriff von „Welt“enthielt stets ein Konzept der – jawohl: der Globalisie­rung. Neuer Trend: Liberale, nicht gläubige Menschen treten einer Religionsg­emeinschaf­t bei, weil so der soziale Zusammenha­lt gestärkte werde.

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 ?? [ Foto: Alfred Seiland] ?? So nah, so fern. Die Faszinatio­n, die das Betreten eines Gotteshaus­es auch auf nicht religiöse Menschen ausüben kann, zeugt noch immer von der Kraft des „heiligen Raumes“in einer profanisie­rten Welt. – Niederöste­rreich.
[ Foto: Alfred Seiland] So nah, so fern. Die Faszinatio­n, die das Betreten eines Gotteshaus­es auch auf nicht religiöse Menschen ausüben kann, zeugt noch immer von der Kraft des „heiligen Raumes“in einer profanisie­rten Welt. – Niederöste­rreich.

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