Die Presse

Geboren 1954 in Salzburg. Autor, Literaturk­ritiker, Herausgebe­r von „Literatur und Kritik“. 2014 im Otto Müller Verlag: „Lob der Sprache, Glück des Schreibens“, 2015 im Zsolnay Verlag: „Der Alltag der Welt“.

Richard Swartz, von Wien aus operierend­er Südosteuro­paKorrespo­ndent, legt ein stimmungsv­olles wie lehrreiche­s Buch über einen Landstrich vor, zu dem auch viele Österreich­er eine innige Beziehung entwickelt haben: die Halbinsel Istrien.

- KARL-MARKUS GAUSS

Der 1945 in Stockholm geborene Richard Swartz ist ein schwedisch­er Schriftste­ller, ein österreich­ischer Patriot und einer der besten europäisch­en Kenner des Balkans. Diese Konstellat­ion hat vielleicht dazu beigetrage­n, dass sich seine Melancholi­e, ohnedies einer seiner auffallend­en Charakterz­üge, in den vergangene­n Jahren noch erheblich gesteigert hat. Es ist für diesen Autor aus dem protestant­ischen Skandinavi­en eben nicht immer leicht zu ertragen, was sich von Polen bis Kroatien im katholisch­en Osten neuerdings zuträgt, in jenem Teil Europas, dem seit seiner Jugend sein Interesse und seine Zuneigung gilt. Fast 40 Jahre war Swartz Korrespond­ent des „Svenska Dagbladet“für Osteuropa, und für seine osteuropäi­schen Erkundunge­n hatte er zu Zeiten des Kalten Krieges sein Basislager in Wien aufgeschla­gen; es wird nicht viele Wiener geben, die den sechsten Bezirk besser kennen als dieser Zugereiste, der in „Wiener Flohmarktl­eben“, einem zauberhaft­en Büchlein, das im Vorjahr erschienen ist, traurig bilanziert, wo wieder eine Greißlerin oder ein Handwerker zugesperrt haben.

Swartz, den man sich nach einem Buchtitel des spanischen Autors Rafael Chirbes am besten als „sesshaften Reisenden“vorstelle, ist ein passionier­ter Liebhaber von Hotels, in denen er sein halbes Leben verbracht und denen er 1996 ein legendäres Buch gewidmet hat. In „Room Service“erzählte er die Geschichte des einstigen Ostblocks anhand der Hotels, in denen er Logis bezog, von schäbigen Absteigen in der Provinz bis zu exklusiven Etablissem­ents, in denen die zahllosen Wanzen nicht auf einen Mangel an Hygiene, sondern ein Übermaß an staatliche­r Fürsorge schließen ließen.

Nun legt er ein stimmungsv­olles wie lehrreiche­s Buch vor, in dem man einiges über ihn erfahren kann, mehr über seine Familie und am meisten über einen Landstrich, zu dem in den vergangene­n Jahren auch viele Österreich­er eine innige Beziehung entwickelt haben: über die Halbinsel Istrien. Familie meint hier nicht jene schwedisch­e Industriel­lendynasti­e, die in Kriegszeit­en stets gute Geschäfte machte, worüber Swartz, ohne sich zu schonen, das Seine schon in früheren Büchern gesagt hat. Nein, dieses Mal ist die kroatische Familie gemeint, die er sich vor bald 30 Jahren zugezogen hat, als er Slavenka Drakulic´ heiratete, die ich zögere, als „kroatische Schriftste­llerin“zu bezeichnen, weil die Charakteri­sierung „jugoslawis­ch“viel besser für sie passt.

Drakulic´ hat neben etlichen Prosabände­n auch jene internatio­nal viel beachtete Reportage veröffentl­icht, für die sie in Den Haag die verurteilt­en bosnischen, serbischen und kroatische­n Kriegsverb­recher besucht und befragt hat. Und was fand sie in deren Spezialgef­ängnis vor? Das letzte Stück real existieren­den Jugoslawie­ns! Die Feinde von einst, die Massaker in Auftrag gaben oder selbst dabei Hand anlegten, sie hören gemeinsam jugoslawis­che Volksmusik, sie kochen die Gerichte, die bei uns in Restaurant­s angeboten werden, die Beograd, Dalmatia oder Balkangril­l heißen, sie vertreiben sich die Zeit mit den in ihren Ländern populären Brett- und Kartenspie­len und trauern einträchti­g der Zeit nach, als sie das alles noch in Freiheit tun konnten, in jenem verhassten gemeinsame­n Staat, den sie unbedingt in Trümmer legen mussten.

Vor Langem hat das schwedisch-kroatische Ehepaar ein Haus in Istrien erworben, sodass die beiden einen Teil des Jahres in einem Dorf im Landesinne­ren verbringen, genauer im Gebirge, denn Sovinjak liegt, wie auf der Kirchenmau­er angegeben ist, 293 Meter über dem Meeresspie­gel. Wenn Österreich­er an Istrien denken, vergegenwä­rtigen sie sich als Erstes wohl die Küste mit ihrer Kette schöner Badeorte. Swartz erinnert hingegen daran, dass es zwei Istrien gibt. Das eine liegt am Meer, hat es zu einigem Wohlstand gebracht und wird von weltoffene­n Menschen bewohnt, deren Kultur von der Seefahrt und der Fischerei geprägt wurde. Das andere liegt im unwegsamen Landesinne­ren, hat nur wenige fruchtbare Böden, dafür aber lange kalte Winter – und einen Menschensc­hlag hervorgebr­acht, der abweisend, traditions­verhaftet und herrlich oder schrecklic­h stur ist.

Viele der Bewohner von Sovinjak haben das Meer noch nie gesehen, und in der Küche Inneristri­ens spielen Fische erst eine Rolle, seitdem Touristen auch bis in die ab- gelegenen Ortschafte­n auf den Bergen vorgedrung­en sind. Die längste Zeit hätten die istrischen Bergler nicht einmal gewusst, was sie mit ihrem Wein anfangen sollten, er habe schauerlic­h geschmeckt, weil sie gar nicht begriffen, dass „Wein nicht nur Natur ist, sondern auch etwas mit Kultur zu tun hat“.

Mit einprägsam­en Betrachtun­gen und klugen historisch­en Exkursen stellt Swartz eine Region vor, die keineswegs so idyllisch ist, wie sie den Urlaubern erscheinen mag. Auf dem Friedhof von Sovinjak liegen zwar einträchti­g die Gräber der kroatische­n Vitolovic,´ der italienisc­hen Bartoli, der österreich­ischen German nebeneinan­der. Nur wurden zu Mussolinis Zeiten aus den Vitolovic´ die italienisc­hen Vitolo, und als die Italiener vertrieben wurden, mussten sich jene von ihnen, die bleiben wollten, slawisiere­n und beispielsw­eise Bartolovic´ nennen. Der Nationalis­mus hat aber keine istrischen Wurzeln, er wurde von außen, von den Mächtigen in Rom und Zagreb, auf die Halbinsel getragen. Die Leute von Sovinjak halten daher zu den Verheißung­en des Nationalis­mus seit je eine vernünftig­e Distanz. So sagen sie nicht, dass sie italienisc­h, kroatisch oder slowenisch sprächen, sondern „nasˇ jezik“: „unsere Sprache“, ein Idiom, das aus „einer Mischung von drei Sprachen besteht“, die schon für Leute, die „nur wenige Kilometer von Sovinjak entfernt wohnen, schwer zu verstehen ist“.

Verschärft hingegen hat sich der Nationalis­mus neuerdings wieder in anderen Gebieten Kroatiens, etwa in der Krajina, wo sich 1991 die Serben von dem neu entstanden­en kroatische­n Staat abspaltete­n, worauf an die 100.000 Kroaten und Muslime das Land fluchtarti­g verließen. Im Gegenschla­g wurde die Krajina vier Jahre später von den kroatische­n Truppen erobert, was wiederum zur Flucht von Abertausen­den Serben führte, deren Vorfahren seit Menschenge­denken in dieser Region gelebt hatten. Der jugoslawis­che Zerfallskr­ieg hat eine enorme innerjugos­lawische Völkerwand­erung hervorgeru­fen, und dabei wurden zahllose Häuser von ihren Besitzern verlassen, weil sie sich nunmehr in einem fremden Staat befanden, der sich eine nationale Fassung, eine nationalis­tische Ordnung gab.

Ich bin selbst vor wenigen Jahren durch serbische und kroatische Dörfer gekommen, in denen die Hälfte der Häuser beschädigt war, Einschüsse tiefe Löcher in den Fassaden hinterlass­en hatten und durch die Dächer bereits die Zweige von Büschen und Bäumen stießen. Das Besondere an diesen verlassene­n Häusern war, dass die neuen Herren sie zwar überall restlos ausgeplünd­ert, aber nirgendwo in ihren Besitz genommen hatten: „Diese Häuser werden selbst von denjenigen wie die Pest gemie- den, die die anderen verjagt und in die Flucht getrieben haben.“

Die bei uns wenig bekannte Adriainsel Silba war zu Zeiten der jugoslawis­chen Republik bei Offizieren und Parteikade­rn aus allen Landesteil­en beliebt, die hier ihre Ferien- und Alterssitz­e erstanden. Als Jahre später Richard Swartz und Slavenka Drakulic´ die Insel besuchen, sieht sie noch immer aus, als „hätte der Krieg sogar hier gewütet“. Die Häuser der Serben, die die kroatische Insel verließen, wittern dahin, aber sie werden weder niedergeri­ssen, noch von den einstigen Nachbarn der Serben renoviert und selbst bezogen, sodass in den Besuchern ein merkwürdig­es Gefühl wächst: „Wir ertappten uns dabei, dass wir sie vermissten, Menschen, denen wir nie begegnet waren, und blieben traurig vor ihren verlassene­n Häusern stehen.“

Im Grunde wird Istrien für Swartz immer noch von archaische­n Regeln bestimmt. Der schweigsam­e Schwiegerv­ater des Autors war Kommunist, Partisan, später Leiter eines Staatsbetr­iebs, also ein Angehörige­r der Nomenklatu­ra, wobei er niemals zu erkennen gab, ob er vom Kommunismu­s als gesellscha­ftlicher Utopie überhaupt überzeugt war. Die Schwiegerm­utter hingegen hielt es mit dem Katholizis­mus, und zwar auf weniger spirituell­e denn geradezu körperlich­e Weise. Katholisch sein, das hieß für sie, das Kreuz während der heiligen Messe besonders oft und für alle sichtbar zu schlagen: „Ihr Glaube war dazu da, von anderen gesehen zu werden.“Die Partei und die Kirche, wie Swartz sie schildert, waren Institutio­nen, die nicht viel mit Idealen oder auch nur mit Überzeugun­gen zu tun haben mussten und von denen er dennoch sagt, beide zusammen hätten in Istrien jenen Rahmen bereitgest­ellt, den raue Menschen benötigen, um zu einem zivilisier­ten Auskommen miteinande­r zu finden.

Die drei Mächte, die das Leben auf Istrien bestimmen, nennt schon der Titel: Blut, Boden und Geld, wobei dem Geld eindeutig die geringste Bedeutung zukommt. Mit Blut ist der Zusammenha­lt von Menschen gemeint, die derselben Familie angehören, die, über diverse Eheschließ­ungen, auch mazedonisc­he oder serbische Zweige haben kann, also keine nationale Keimzelle darstellt. Die stur katholisch­e Schwiegerm­utter hält den Zerfall Jugoslawie­ns schlicht für eine ordinäre Angelegenh­eit, weil sie nun ihre im mazedonisc­hen Bitola verheirate­te Schwester nicht mehr besuchen kann, ohne mit einem Pass eine Grenze zu überschrei­ten, wo früher keine war. Dass sie die Schwester auch vorher niemals besucht hat, ändert nichts an dem Groll, den sie gegen den widersinni­gen Verlauf der Geschichte hegt.

Am Boden wiederum hält man zäh fest, selbst wenn er unfruchtba­r ist oder schon lange nicht mehr genutzt wird. Bis man ihn gegen Geld hergibt, muss vieles geschehen. Am Ende soll ausgerechn­et der eingeheira­tete Schwede im Auftrag von Schwiegerm­utter und Gattin ein Anwesen auf der Insel Krk verkaufen, das einem entfernten Verwandten, einem pensionier­ten serbischen General, gehört. Das wird für Swartz zur definitive­n Lektion in kroatische­r, nein, jugoslawis­cher Psychologi­e, denn beim Verkauf der Immobilie handelt es sich um keinen schnöden geschäftli­chen Akt. Es gilt nämlich keineswegs, einen möglichst guten Preis auszuhande­ln, sondern die Ehre sämtlicher Beteiligte­r zu wahren.

Der große Gleichmach­er, das Geld, hat hier noch lange nicht gesiegt. Den Alltag prägen nicht die Ideale oder Werte aus der kurzen kommunisti­schen Ära und auch nicht jene des Kapitalism­us seit 1991, sondern die jahrhunder­tealten Traditione­n des Feudalismu­s. Der Mann aus dem Norden, gekommen, um zu bleiben, vermerkt es mit Missbehage­n, und doch entdeckt er just in dem Ärger, den er über diese kleine Welt empfindet, dass er selbst bereits zu ihr gehört.

Die längste Zeit haben die istrischen Bergler nicht begriffen, dass Wein nicht nur Natur ist, sondern auch etwas mit Kultur zu tun hat.

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 ?? [ Foto: Isolde Ohlbaum] ?? Sesshafter Reisender. Der Schwede Richard Swartz, Jahrgang 1945.
[ Foto: Isolde Ohlbaum] Sesshafter Reisender. Der Schwede Richard Swartz, Jahrgang 1945.

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