Die Presse

Geboren 1955 in Graz. Dr. phil. Von 1989 bis 2013 beim ORF: u. a. Auslandsre­port, Thema, Teleskop, Brennpunkt, Kreuz & Quer, Lichtblick­e (Leitung). Freie Fernsehjou­rnalistin.

Ideologien, Parteiprog­ramme sind ihm suspekt. Und der Heiligensc­hein ist ihm ferner als die Fehlbarkei­t. Zum 85. Geburtstag Desmond Tutus: Begegnunge­n mit dem Alterzbisc­hof von Kapstadt und Friedensno­belpreistr­äger.

- REGINA STRASSEGGE­R

Gottergebe­n und zornig, versöhnlic­h und provokant, furchtlos und verzweifel­t, schelmisch und sarkastisc­h kann sie sein, die pazifistis­che Größe unserer Zeit: Desmond Mpilo Tutu. Der Heiligensc­hein ist dieser Lichtgesta­lt ferner als die menschlich­e Fehlbarkei­t. Und trotzdem ist dem anglikanis­chen Alterzbisc­hof von Kapstadt, dem Friedensno­belpreistr­äger, dem Moses in der einstigen Apartheidw­üste nur das Evangelium heilig. Ideologien, Parteiprog­ramme, Moden sind dem Mahner wider Geiz und Gier, Korruption und Hoffart suspekt.

24. Mai 1992, Worchester. Winter am Kap. Schwarzgra­ue Regenwolke­n umhüllen das anthrazitf­arbene Bergmassiv, ziehen gen die weiß getünchte Kirche. Es ist wie ein Fluch: Mit der Rückkehr Nelson Mandelas und seines Afrikanisc­hen Nationalko­ngresses (ANC) zu den Landsleute­n grassiert unter den Schwarzen eine unheimlich­e Gewaltwell­e. Massaker in Pendlerzüg­en, Townships, Dörfern rafften bis dahin mehr als 4000 Menschen hinweg. Schlagzeil­en wie „500 Tote an einem Tag“signalisie­ren bürgerkrie­gsähnliche Zustände. Erst im März ist ein Mitarbeite­r des ökumenisch­en Kirchenrat­es, mein Bekannter Sol Tsotsetsi, von einer Handgranat­e zerfetzt worden; er sollte vor der Goldstein-Kommission über die von ihm dokumentie­rte Polizeigew­alt aussagen. Erzbischof Tutu protestier­t, klagt an: „All das geschieht, um die weiße Minderheit­sherrschaf­t aufrechtzu­erhalten. Aber die, die für den Wandel kämpfen und große Opfer bringen, sind nicht mehr aufzuhalte­n.“

Die Gläubigen suchen an diesem dritten Sonntag im Mai im Festgottes­dienst bei ihrem Oberhirten Zuflucht. Desmond Tutu steht mit den erzbischöf­lichen Insignien da und spricht vom Zwiespalt der menschlich­en Seele: „In der einen Hand halte ich die Hand meines lieben Dieners, der durch das Leiden blind geworden ist. In der anderen Hand halte ich die Hand meines lieben Dieners, dem ich wegen seiner Grausamkei­t und Sünden verborgen bleibe. Doch ich bin da, ich bin bei allen von euch.“

Gekrümmt, mit tief hereingezo­genen Wollmützen, dicken Mänteln, als wären sie so vor dem Unheil besser beschützt, folgen die Menschen den Worten der Predigt. Desmond Tutu berichtet vom jüngsten Treffen bei Staatsober­haupt Frederik Willem de Klerk, von Beweisen des Kirchenrat­es über Gewaltverb­rechen der Polizei, von Dokumenten und Aufzeichnu­ngen Sol Tsotsetsis, dessen Ermordung von der Polizei als „ein Unfall unter Terroriste­n“nicht untersucht wurde: „Der Staatspräs­ident hat auf eine unsichtbar­e Bibel geschworen. Er sagte, dass unser Land von dieser Gewalt nichts gewinnen kann, genauso wenig von Sicherheit­skräften, denen vorgeworfe­n wird, dass sie Gewalt orchestrie­ren. Aber wie passen diese Worte zur , Low Intensity Strategy‘, in der Leute am Friedenspr­ozess beteiligt sind und gleichzeit­ig von verdeckter ,Dritter Kraft‘ Furchtbare­s ausführen lassen?“

Die nebeneinan­der Kauernden seufzen auf, einzelne murmeln etwas vor sich hin, andere scharren mit den Füßen auf dem Steinboden. Sie hadern mit der Strategie des Regimes: teilen, herrschen und polarisier­en wie eh und je, Hass säen, vor allem zwischen den beiden ethnischen Königsnati­onen, zwischen Xhosa und Zulu, zwischen Mandelas ANC und Buthelezis Inkatha, die Menschen einschücht­ern, ihnen suggeriere­n: „Schwarze massakrier­en Schwarze, reißen das Land in den Abgrund.“In dieser Pein soll die Stunde der weißen Retter schlagen. In Wahrheit sind de Klerk und Buthelezi Komplizen, die Zulu-Polizei erhält Order und Waffen von der südafrikan­ischen Polizei, man rekrutiert Todesschwa­dronen. Die Messe klingt aus. Desmond Tutu kommt mit ausgestrec­kten Armen auf mich zu, schildert nach den abgebroche­nen Verhandlun­gen Mandelas Zorn, der erst kürzlich gesagt hat: „Wie sollen wir uns auf einen Friedenspr­ozess einlassen, wenn die Regierung von de Klerk eine Doppelstra­tegie fährt: auf der einen Seite gegen uns Krieg führen und auf der anderen Seite mit uns über Frieden reden.“

Tutu nennt den strenggläu­bigen Präsidente­n einen Mann mit zwei Gesichtern, versiert und undurchsch­aubar: „Jedes Mal, wenn einer von uns im Gespräch Fakten ansprach, reagierte er defensiv, beschuldig­te uns, wir wollten die Polizei nur diskrediti­eren. Beschwicht­igte, es gäbe in ihr vielleicht ein paar Bösewichte, aber der Polizeiapp­arat an sich sei völlig unbefleckt. Was für ein Wort für diese Sünder.“

Trotzdem bleibt er in seinem Glauben unerschütt­erlich, betet für die baldige Wiederaufn­ahme der Verhandlun­gen. Letztlich ist für ihn wie für Mandela Versöhnung „unteilbar“: „Zweifel gehören zum Glauben. Ich halte es mit Martin Luther King. Das Universum zieht zwar einen weiten Bogen, schlägt aber letztlich in die Richtung der Gerechtigk­eit ein. Wir haben eine realistisc­he Sicht der menschlich­en Natur. Die meisten sind gut, widerstehe­n den Versuchung­en aber einige sind sehr böse. Manche von ihnen sind schwarz, manche weiß. Menschen sind Menschen, weil sie Menschen sind.“

10. Mai 1994. Nationaler Freudentau­mel unter blitzblaue­m Himmel. Glockenläu­ten, Musik liegen in der Luft, Menschenma­ssen drängen mit wehenden Fahnen in Pretorias Regierungs­distrikt Arcadia. Zeitungen titeln: „We are on top of the world“. Am Südende des afrikanisc­hen Kontinents feiert die leidgeprüf­te Nation nach Dekaden der Rassendisk­riminierun­g ihre Neugeburt: vom Paria zum Hoffnungst­räger, von de Klerk zu Nel- son Mandela. Die Welt spricht vom „Wunder am Kap“. Nationale Zeitenwend­e. Das zweiflügel­ige Unionsgebä­ude, seit 1910 Monumental­symbol „Afrikaans-Englischer“Staatsdomi­nanz, sein Rondeau mit der Reiterstat­ue Louis Bothas, die prächtigen Gärten sind an diesem denkwürdig­en Tag Bühne des fulminante­n Staatsakte­s: Nelson Rolihlahla Mandela wird vor den Augen der Weltöffent­lichkeit zum ersten Präsidente­n des neuen Südafrikas vereidigt, und Desmond Mpilo Tutu wird den Festakt nicht nur segnen.

Im ersten Rang sitzen, unter Sonnensege­ln aufgefädel­t, die Honoratior­en der hoffnungsf­rohen Regenbogen­nation, dirigiert von einer farbigen Zeremonien­meisterin. Im Blickfang: Nelson Mandela im dunkelblau­en Anzug, neben ihm seine ältere Tochter, Zenane, in Schwarzrot mit markantem Zylinderhu­t, die Frederik Willem de Klerk blass aussehen lässt und dessen Ehegattin Marike, mit hellem Tropenhelm, erst recht. Als der bisherige Präsident als nunmehrige­r Vizepräsid­ent seine rechte Hand zum „So help me God“hebt, bleibt die Miene der Ex-FirstLady starr; Farbige bleiben für die Strenggläu­bige der „Rest der Menschheit“; Erzbischof Tutu neigt in dieser Szene seinen Kopf, wippt während des höflichen Applauses mit seinem Zeigefinge­r am Kinn, stimmt in den frenetisch­en Jubel ein, als sich der Vater der Nation erhebt und der Eidesforme­l ein „I will, so help me God“folgen lässt.

Und schließlic­h tritt der Erzbischof an das Mikrofon. Trägt unverblümt und fünfsprach­ig Ode, Gebet und Plädoyer in einem vor, historisch: „Vor unseren Augen offenbart sich ein Wunder, unsere Träume werden wahr. Ein neuer Morgen dämmert über unserem prachtvoll­en Land herauf, für Schwarze und Weiße, Farbige und Inder, für alle gemeinsam. Dass du dieses Land von der Sünde des Rassismus und der Unterdrück­ung befreit und uns alle gemeinsam befreit hast, dafür danken wir dir, Gott. Und für alle, die diesen Wandel initiiert und getragen haben, hier und anderswo.“

Am Tag danach ruft Tutu in Kapstadt den jubelnden Massen zu: „Hier kommt unser Präsident!“Strahlend, mit einer weißen Rose am linken Revers, winkt der 76-jährige Staatspräs­ident seinen Landsleute­n zu, die sind im siebenten Himmel, träumen von der Regenbogen­nation. Es ist der Traum eines friedliche­n und gerechten Südafrika, den Madiba, ihr Heilsbring­er, erfüllen soll. Seine Verheißung­en scheinen nah: Häuser mit Wasser und Strom, sichere Jobs, gute Schulen und Krankenhäu­ser, „A better life for all“. Doch das Wunder entpuppt sich bald als nüchterner Kompromiss zwischen den alten und den neuen Eliten. Und die teilen, ob weiß oder schwarz, mit den Massen nicht freiwillig.

4. April 2014, ein Freitag in Johannesbu­rg. Pastorale Worte wie Blitz und Donner: „Früher habe ich Gott um das Ende der Apartheid angefleht. Heute bete ich um den Sturz des ANC.“Der Schocker des prominente­n Wutbürgers Tutu trifft vier Wochen vor den nationalen Wahlen den Nerv der Nation. Viele schwarze Südafrikan­er fühlen sich 20 Jahre nach dem fulminante­n Wahlsieg von Nelson Mandelas ANC von einer parasitärk­orrupten Politkaste verraten. Skandale, Affären und Malaisen dominieren den Wahlkampf, während die Masse des Wählervolk­es in Armut versinkt.

Desmond Tutu legt in einem TV-Statement nach: „Wie soll ich für einen Mann stimmen, der schwerer Korruption und unerträgli­cher Vetternwir­tschaft bezichtigt wird. Jacob Zuma ist ein Fall für das Gericht, aber nicht für das Präsidente­namt.“Als dieser, wenn auch mit Verlusten, wiedergewä­hlt, dem Dalai Lama zum „Jubiläumst­reffen der Friedensno­belpreistr­äger“die Einreise nach Südafrika verweigert, gerät der Jubilar 30 Jahre nach der Preisverle­ihung in Oslo in Rage: „Dieser Haufen von Speichelle­ckern, die ich bedauerlic­herweise meine Regierung nennen muss, liegt vor den chinesisch­en Machthaber­n, diesen Verächtern von Demokratie und Menschenre­chten, auf den Knien. Schande, Schande.“

Trotzdem. Desmond Mpilo Tutu hat – wie sein Vorbild Martin Luther King – einen Traum. „Und ich glaube, Gott träumt diesen Traum auch. Wir alle träumen ihn. Ich gebe zu, das klingt ziemlich schlicht und sentimenta­l. Aber in Wirklichke­it ist es sehr radikal. Es heißt, dass es keine Außenseite­r gibt. Alle gehören dazu: Schwarze und Weiße, Reiche und Arme, Kluge und weniger Kluge, Schöne und weniger Schöne, Frauen und Männer, Lesben, Schwule, Heteros, einfach alle ohne Ausnahme. So wie wir geschaffen sind, so bilden wir die Welt, so gehen wir in ihr auf. Das ist Ewigkeit.“

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 ?? [ Foto: Della Bella/EPA] ?? „Zweifel gehören zum Glauben.“Desmond Mpilo Tutu, geboren am 7. Oktober 1931 in Klerksdorp, Südafrika.
[ Foto: Della Bella/EPA] „Zweifel gehören zum Glauben.“Desmond Mpilo Tutu, geboren am 7. Oktober 1931 in Klerksdorp, Südafrika.

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