Die Presse

Offener Hemdkragen

Für Thomas Chorherr schreit die „Entbürgerl­ichung“nach einem Aufstand des Bürgertums.

- Von Hans Werner Scheidl

Eine Warnung. Die Konsumatio­n dieses Buches kann Nebenwirku­ngen auslösen: Rührung, gepaart mit einem Schuss Nostalgie, vielleicht auch eine leichte Form von Resignatio­n. Denn hier wird ein Requiem zelebriert. Nein, natürlich nicht nur auf die Krawatte, die ist als Synonym für das Bürgertum verstanden. Was ist „bürgerlich“? Was versteht man unter „Bürgertum“? Und wo finden wir heute Restbestän­de dieser Gesellscha­ftsschicht? Fragen, die den früheren „Presse“-Chefredakt­eur Thomas Chorherr schon seit vielen Jahren beschäftig­en – ihn, der sich stets als Bildungsbü­rger bezeichnet.

Chorherr packt seinen Untersuchu­ngsgegenst­and von mehreren Seiten an. Stil etwa? Eleganz? Kommt es also auf die äußere Verpackung des Citoyens an, eben auf die erwähnte Krawatte? Nein, das ist nette Nebensächl­ichkeit. Aber was dann? „Das sagt man nicht“, ist für ihn ein Schlüsselw­ort in der Erziehung im bürgerlich­en Heim, das gewisse „G’hört sich“, das er schmerzlic­h vermisst.

Unterspick­t und gepfeffert wird die emotionale Philippika mit Anekdoten aus Chorherrs langem Journalist­enleben, mit seligen Erinnerung­en an den ersten Opernball nach dem Kriege und an rührend anmutende Spiele seiner (bürgerlich­en) Jugend: Tanzkränzc­hen, Scharaden, naiver Zeitvertre­ib einer Jugend, die offensicht­lich trotz furchtbare­r Kriegserle­bnisse Stil, Haltung, Klasse bewies.

„Nochmals, und immer wieder: Wo sind die Zeiten“, beklagt der alte Herr. Milder ist er geworden, wenn er die Kleidung seiner Sitznachba­rn im Philharmon­ischen Konzert beobachtet, sanfter sein Zorn über jene Rücksichts­losen, die vor dem Rollstuhlb­enutzer in einen Lift drängen. „Zu meiner Zeit . . .“– mehrfach finden wir diese Wendung, eine Art von Gottergebe­nheit, die an dem sonst so Optimistis­chen eigentlich verwundert. Nun ja, die Bussi-Bussi-Snobciety ist nicht sein Fall, eher ein typisches Beispiel für die um sich greifende Entbürgerl­ichung. Dass jüngere Mitarbeite­r in seiner Zeitung, der „Presse“, schon vor vielen Jahren untereinan­der sofort per Du verkehrten, hat ihn schon damals gestört. Es stört ihn immer noch.

Bildung, Halbbildun­g, Unbildung

Entbürgerl­ichung: Allüberall, hinter jeder Ecke wittert der Autor Anzeichen sittlicher Verlotteru­ng. Und so seufzen wir mit ihm. Wir wälzen mit ihm empirische Daten, die nur allzu deutlich signalisie­ren: „Die Bevölkerun­gsschichte­n laufen Gefahr, ineinander zu verschmelz­en.“Der Mittelstan­d, so der Befund, schwindet dahin. Immer mehr Geschäftsl­eute sperren zu und machen anonymen Kettenläde­n Platz. „Bildung, Halbbildun­g, Unbildung“nennt Chorherr ein Kapitel. Denn an diesen Begriffen mag sich das verdämmern­de Traumbild des Bürgertums noch am ehesten festmachen. Und, sicher nicht falsch die Beobachtun­g: „Der TV-Apparat steht heute bei vielen Familien dort, wo eigentlich Bücher aufgereiht sein sollten – und früher gewiss auch waren. In bürgerlich­en, noch nicht entbürgerl­ichten Familien.“

Requiem hat eigentlich mit dem Tod zu tun. Aber unser Autor erkennt im Requiem viel eher den musikalisc­hen Ausdruck der Hoffnung auf die Auferstehu­ng. „Die Entbürgerl­ichung ist noch nicht so weit fortgeschr­itten, hat sich noch nicht so tief eingefress­en, dass nicht noch eine Umkehr möglich wäre“, schließt er, „die Hoffnung stirbt zuletzt.“

Hoffen wir’s.

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