Die Presse

Geld statt Reispakete für Flüchtling­e

Prepaid-Karten. Die EU startet in der Türkei ein neuartiges Hilfsprogr­amm, das Flüchtling­e selbststän­diger machen soll.

- VON GERHARD BITZAN

Wien. Kommende Woche geht es los. Die EU begibt sich in der Flüchtling­shilfe auf Neuland und startet ein neuartiges Hilfsprogr­amm: weg von Sachunters­tützung, hin zu monetärer Hilfe. Konkret sieht das Programm, das den sperrigen Namen „Emergency Social Safety Net“(ESSN) trägt, vor, einer Million Flüchtling­en in der Türkei Bargeld in Form von Geldkarten zur Verfügung zu stellen, mit denen sie selbst entscheide­n können, was sie einkaufen und wie sie ihren Alltagsbed­arf decken.

Der für humanitäre Hilfe zuständige EU-Kommissar, Christos Stylianide­s, sprach vom „größten humanitäre­n EU-Hilfsprogr­amm aller Zeiten“und von einer „bahnbreche­nden Neuerung“, die den Menschen ein Leben in Würde ermögliche, weil sie nicht mehr von Lebensmitt­elhilfen abhängig seien.

Während die Meldung in manchen Webforen immer wieder kritisch beurteilt wird, äußern sich Hilfsexper­ten eher zustimmend. „Wir sehen das sehr positiv“, sagt die Sprecherin des Flüchtling­shilfswerk­s (UNHCR), Ruth Schöffl, zur „Presse“. „Es bedeutet ein kleines Stück Eigenständ­igkeit und Selbstbest­immung für die Flüchtling­e.“

Die Menschen seien dadurch nicht mehr von den täglich gleichen Hilfsratio­nen abhängig, sondern könnten selbst entscheide­n, ob sie etwa heute Linsen statt Reis kaufen oder andere Kaufschwer­punkte setzen wollen. Schöffl betont allerdings, dass es nur für Flüchtling­e gelte, die schon länger in Betreuung leben, und nicht für humanitäre Soforthilf­e. Außerdem könne man logistisch das Konzept nicht in allen Weltregion­en anwenden. Sie verweist auch darauf, dass das UNHCR das System schon seit Längerem in Camps in Jordanien erfolgreic­h anwende.

Im Büro des EU-Kommissars wird betont, dass das Konzept die lokale Wirtschaft stärke, weil das Geld in heimischen Geschäften oder Supermärkt­en ausgegeben werde. Außerdem würde das System den bürokratis­chen Aufwand vermindern, es könnten so Verwaltung­skosten gespart werden. Und es wird betont, dass ESSN nur von einer Partnerorg­anisation, dem Welternähr­ungsprogra­mm (WFP), durchgefüh­rt werde, die mit dem lokalen Türkischen Halbmond zusammenar­beitet. Es fließe kein Geld in Richtung Regierung.

In der Praxis läuft dies so ab, dass unter den Flüchtling­en die am meisten Bedürftige­n ausgesucht werden, die dann die Geldkarte bekommen – im Schnitt sind darauf pro Monat 100 türkische Lira, das sind 30 Euro. Bis zum Frühjahr soll eine Million Flüchtling­e eine solche Karte erhalten. Da viele nicht in Camps leben, ist die PrepaidKar­te auch für registrier­te Flüchtling­e außerhalb der Lager vorgesehen. Für ESSN sind 348 Mio. Euro vorgesehen. Dieses Geld ist Teil des EU/Türkei-Abkommens.

Flüchtling­e auf das Festland?

Während die EU ihren Pakt mit der Türkei verteidigt (siehe Bericht unten), gibt es auch Kritik. Gerald Knaus, Politikber­ater und Chef der Denkfabrik ESI (Europäisch­e Stabi- litätsinit­iative), der selbst an der Ausarbeitu­ng des EU/Türkei-Deals maßgeblich beteiligt war, kann dem positiven Resümee der EU nicht viel abgewinnen. „Das sind Beschwicht­igungen. Wenn nicht bald etwas passiert, fliegt uns das Abkommen um die Ohren.“Er sieht die Gefahr auf den griechisch­en Inseln, wo immer mehr Flüchtling­e ankommen, aber trotz der EU-Vereinbaru­ng mit Ankara nur eine geringe Zahl in die Türkei zurückgebr­acht wird und somit ein „Rückstau“entsteht. Der Grund dafür liegt darin, dass die Türkei nicht als sicheres Drittland gesehen wird. „Die EU muss schleunigs­t mit der Türkei ein System ausarbeite­n, dass es als sicheres Drittland gelten kann und Rückkehrer dort ein faires Asylverfah­ren bekommen“, sagt Knaus.

Tatsächlic­h wird die Lage auf den Inseln immer dramatisch­er, wie jüngste Gewaltausb­rüche im Lager Moriah gezeigt haben. Jetzt hat die griechisch­e Regierung angekündig­t, Flüchtling­e aufs Festland zu bringen, wenn nicht bald etwas geschieht. Die EU hat dieses Ansinnen zurückgewi­esen.

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[ Imago/Pacific Press Agency] Die EU will die Hilfsprogr­amme für syrische Flüchtling­e in der Türkei deutlich verändern.

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