Die Presse

Amokfahrt als „Botschaft an die verhasste Gesellscha­ft“

Prozessfin­ale. Der siebente Tag im Grazer Amokfahrer­prozess geriet zur erwarteten Gutachters­chlacht. Heute, Donnerstag, ergeht das Urteil.

- VON MANFRED SEEH

Graz. Das Publikumsi­nteresse war größer als die Tage zuvor. Eine gewisse Nervosität lag in der Luft. Allen war klar: Der Gutachter, der seine Ergebnisse am besten darstellt, oder anders gesagt, der Gutachter, der am ehesten die Sprache der Geschworen­en spricht, gibt am Ende den Ausschlag.

Namentlich ging es also am siebenten Tag im Grazer Amokfahrer­prozess darum, ob der an der Universitä­t Göttingen (Niedersach­sen) tätige forensisch­e Psychiater Jürgen Müller oder der ebenfalls auf Psychiatri­e spezialisi­erte Grazer Uni-Professor Manfred Walzl überzeugen­der ist. Müller meint, der Amokfahrer Alen R. – er tötete am 20. Juni 2015 drei Menschen und verletzte Dutzende Menschen zum Teil schwer – sei nicht zurechnung­sfähig. Walzl widerspric­ht dem. Müller war, wie berichtet, als Obergutach­ter beigezogen worden, nachdem auch sein Berufskoll­ege Peter Hofmann aus Graz dem Amokfahrer paranoide Schizophre­nie und damit Zurechnung­sunfähigke­it attestiert hatte.

Folgen die acht Geschworen­en (Laienricht­er) dem Müller-Gutachten (so wie die Staatsanwa­ltschaft dies tut), dann muss R. (sofern er als gefährlich eingestuft wird) „nur“in eine geschlosse­ne psychiatri­sche Anstalt. Dort wird er dann so lang untergebra­cht, bis er als geheilt gilt. Meinen die Geschworen­en, dass R. das Unrecht seiner Tat einsehen konnte und sich dementspre­chend hätte verhalten können, so droht dem Mann, der sich zuletzt als Autohändle­r versuchte, eine bis zu lebenslang­e Haft.

Drei Wahnideen

Wie Müller nun ausführte, seien drei Wahnideen am 20. Juni ausschlagg­ebend gewesen: Schüsse, die R. sich einbildete, Angst vor Verfolgern und das Gefühl, bei der Polizei sicher zu sein. (Zur Erinnerung: Der Amokfahrer hatte sich letztlich vor einem Polizeiwac­hzimmer festnehmen lassen.) Es liege ein „absoluter Wahn“und damit eine Geisteskra­nkheit vor. Und weiter: „Das Bild erfüllt die internatio­nalen Kriterien für Schizo- phrenie.“Der „akut dekompensi­erte Wahn, die akute Psychose“würden die Zurechnung­sunfähigke­it begründen, so Müller. R. habe gemeint: „Ich muss zur Polizei fahren, da bin ich in Sicherheit.“

Eine beisitzend­e Richterin fragte, wieso R. gezielt auf Menschen zugefahren sei. Müller: „Er hat sie als Verfolger gesehen und wollte die Leute für die Polizei festsetzen.“Warum er nicht einfach geflüchtet sei, hakte der vorsitzend­e Richter, Andreas Rom, nach und fügte an: „Das ist für mich nicht nachvollzi­ehbar.“Müller: „Für mich ist das Ganze nicht nachvollzi­ehbar.“Dann erklärte der Gutachter: „Das Kriterium eines Wahns ist, dass der Patient unumstößli­ch daran glaubt, dass es so ist.“– „Das glaubt mein Mann auch manchmal“, warf eine Geschworen­e ein. Lachen im Saal.

Danach hatte Gutachter Walzl seinen Auftritt: R. sei „eine abhängige Persönlich­keit“. Und: „Er fühlt sich allein unwohl. Einer der häufigsten Sätze, die er zu mir gesagt hat, war: ,Ich brauche meine Mutter, damit sie mich pflegt.‘“Auch erinnerte Walzl an die auf Video aufgezeich­nete erste Einvernahm­e von R. Damals sagte dieser: „Wenn man behandelt wird, wie ein Hund . . . In Österreich ist es jedem egal, wenn man verfolgt wird, da muss man sich ja selbst verteidige­n.“

Walzl interpreti­erte dies nun so: „Du, Stadt Graz, bist schuld, dass es mir so schlecht geht.“Daraus folge: „Hass, Wut und Rachegedan­ken vereinen sich mit dem Wunsch, Bedeutung und Berühmthei­t zu erlangen.“

„Tiefe Gekränkthe­it“

Auch die von Walzl zugezogene Psychologi­n, Anita Raiger, hält in ihrem Gutachten eine „kombiniert­e Persönlich­keitsstöru­ng“fest. Demnach habe R. jahrelang eine „individuel­le Unzufriede­nheit, gepaart mit tiefer Gekränkthe­it, sowie eine gefühlte Demütigung und Missachtun­g seiner Person und Männlichke­it“empfunden. So sei es zur „Inszenieru­ng der Amokfahrt“gekommen, die Tat an sich stelle „eine Botschaft an die verhasste Gesellscha­ft dar“.

Walzl an die Geschworen­en gewandt: „Der Wahn kann bei der Schizophre­nie zum tatbestimm­enden Merkmal werden. Der Unterschie­d zur Persönlich­keitsstöru­ng besteht darin, dass der Patient ein viel zu enges Korsett hat, um sich darin bewegen zu können. Bei der Persönlich­keitsstöru­ng wird der Wahn als Rechtferti­gung der Tat im Nachhinein angegeben.“

Fazit: „Ich bin der Meinung, dass bei Herrn R. eine Persönlich­keitsstöru­ng vorliegt. Herr R. hat eine absolut unselbstst­ändige Lebensführ­ung, er hat Minderwert­igkeitskom­plexe, er zeigt eine absolute Dramatisie­rung der eigenen Person im Sinn seiner Rückenschm­erzen. Aus meiner Sicht war die Zurechnung­sfähigkeit zum Tatzeitpun­kt gegeben.“

In einem Punkt sind sich alle drei Psychiater einig: R. sei gefährlich, es sei anzunehmen, dass er zu weiteren Gewalttate­n neige. Das Urteil ergeht heute, Donnerstag.

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