Die Presse

„Hohe Lügenberei­tschaft“des Amokfahrer­s

Letzter Prozesstag. Die Gerichtsps­ychologin Anita Raiger stützte am letzten Verhandlun­gstag die Einschätzu­ng jenes Psychiater­s, der den Amokfahrer von Graz für durchaus zurechnung­sfähig hält. Alen R. sei überdies „hochgefähr­lich“.

- VON MANFRED SEEH

Graz. Dieser Prozess ist anders. Das hat mehrere Gründe. Allein die Opferbilan­z ist schwer zu fassen: Dreifachen (vollendete­n) Mord und 110-fachen Mordversuc­h hätte der Amokfahrer von Graz, Alen R., zu verantwort­en gehabt – hätte ihn die Staatsanwa­ltschaft als zurechnung­sfähig eingestuft. Doch der 27-Jährige wurde bis zuletzt nicht als Angeklagte­r geführt. Laut zwei von drei bestellten Psychiater­n sei er nämlich nicht in der Lage gewesen, sein Unrecht einzusehen bzw. – wenn doch – habe er es nicht geschafft, sich gemäß dieser Einsicht zu verhalten.

R. wurde daher als sogenannte­r Betroffene­r eingestuft; die Staatsanwa­ltschaft hatte aufgrund seiner psychische­n Erkrankung (paranoide Schizophre­nie) keine Bestrafung, sondern eine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrec­her beantragt.

Weil aber die acht Geschworen­en allein über Schuld oder Schuldlosi­gkeit entscheide­n und sich dabei keineswegs der gutachterl­ichen Mehrheitsm­einung anschließe­n müssen, war es am Donnerstag bis zuletzt spannend. Denn auch ein Schuldspru­ch verbunden mit lebenslang­er Haft – nicht nur eine Einweisung – stand im Raum.

110-fache versuchte Tötung? Hierbei zählten die Staatsanwä­lte Rudolf Fauler und Hansjörg Bacher auch jene Menschen mit, die dem heranrasen­den SUV des 27-Jährigen am 20. Juni des Vorjahres mit knapper Not, etwa durch einen Sprung zur Seite, entkommen waren. Auch diese Personen habe R. töten wollen, so die beiden Staatsanwä­lte. Hätte das Anklägerdu­o Zurechnung­sfähigkeit angenommen, so hätte es eben 110-fachen Mordversuc­h zur Anklage gebracht. Tatsächlic­h (körperlich) verletzt wurden bei der blutigen Fahrt durch die Grazer Innenstadt 43 Menschen. Einige von ihnen sehr schwer.

Eine einzigarti­ge Ausgangsla­ge

Es war also diese Ausgangsla­ge, die den Prozess einzigarti­g machte: Einerseits eine dramatisch hohe Opferbilan­z, anderersei­ts das ständige Kreisen um die zentrale Frage, ob Alen R. überhaupt schuldfähi­g sei. Das Staatsanwä­lteduo schien von seinem eigenen Antrag auf Anstaltsun­terbringun­g nicht voll und ganz überzeugt zu sein, und so enthielt das Plädoyer auch die bemerkensw­erte Botschaft an die Geschworen­en: „Sie dürfen nach Ihrem Bauchgefüh­l entscheide­n, das dürfen Sie als Laienricht­er nach dem Gesetz.“

Aber auch so manch andere Besonderhe­it hatte die Verhandlun­g zu bieten: So wurde das Prozessges­chehen live in einen anderen Gerichtssa­al übertragen, wo das Publikum wie im Kino diesen Gerichtssa­al- Thriller mitverfolg­en konnte. Auch die Zeugenlist­e suchte ihresgleic­hen: Mehr als 130 Personen waren geladen. Darunter auch der Grazer Bürgermeis­ter, Siegfried Nagl, der einerseits selbst beinahe zum Opfer des Amoklenker­s geworden wäre – und anderersei­ts als Politiker schon im Vorfeld des Prozesses seine Meinung kundgetan hatte. Nämlich, dass jemand wie R. lebenslang von der Gesellscha­ft ferngehalt­en werden solle.

Der Amoklenker war besonders intensiv analysiert worden. Wenngleich sich die Mutmaßung, es könne sich um einen islamistis­ch motivierte­n Terroransc­hlag gehandelt haben, nicht erhärten ließ (der Richter hatte dies offen angesproch­en), so bot der Lebensweg des 27-Jährigen immer noch genug Stoff

Am Donnerstag zogen sich die Geschworen­en zur Beratung zurück. Bis zuletzt stand die Frage im Raum, ob Alen R. zur Tatzeit zurechnung­sfähig war. Insofern pendelte die Verhandlun­g von Anfang an zwischen zwei Ansätzen: Bei Zurechnung­sunfähigke­it war „nur“eine Anstaltsei­nweisung möglich. Andernfall­s drohte R. eine lebenslang­e Freiheitss­trafe. für Spekulatio­nen. Es kam etwa heraus, dass der Mann, der als vierjährig­es Kind mit seinen Eltern von Bosnien nach Österreich geflüchtet war, Kontakte zu einem ebenfalls in Bosnien geborenen Mann, einem gewissen Fikret B. (49), hatte. Dieser Fikret B. war erst im März wegen Terrortatb­eständen in Bezug auf die Terrormili­z Islamische­r Staat zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Abgesehen von dieser Auffälligk­eit sorgte Alen R. auch durch seine Bekleidung für Gesprächss­toff. Vom ersten bis zum achten und letzten Verhandlun­gstag trug er denselben weißen, zu großen Anzug, dazu weiße Schuhe.

Ehe sich Donnerstag­nachmittag die Geschworen­en zur Beratung zurückzoge­n, kam es zu Streit zwischen der Psychologi­n Anita Raiger und Verteidige­rin Liane Hirschbric­h. Raiger hatte bei dem Betroffene­n eine „psychopath­ische Störung“festgestel­lt und ihn als „hochgefähr­lich“eingeordne­t. Sie sagte: „Es zeigt sich eine auffallend hohe Lügenberei­tschaft. Alles, was ihm nachgewies­en werden konnte, dementiert er.“

Anwältin gegen Psychologi­n

Hirschbric­h entgegnete in Anspielung darauf, dass R. seine Amokfahrt vor einem Polizeiqua­rtier beendet hatte, weil er sich – laut Psychiater­n – verfolgt gefühlt habe: „Ist das eine Lüge, dass er zur Polizei fuhr, um Schutz zu suchen?“Raiger schlagfert­ig: „Schön, dass Sie das ansprechen. Jemand, der aus seiner Wohnung weggewiese­n wurde, der Polizisten den Stinkefing­er zeigt, der sucht nicht Schutz bei der Polizei. Das halte ich für unglaubwür­dig.“

Hirschbric­h zu Raiger: „Sie sagen, er habe eine hohe Lügenberei­tschaft. Gleichzeit­ig ist er überdurchs­chnittlich intelligen­t, wie Sie mit einem Test festgestel­lt haben. Ist es nicht unintellig­ent von Herrn R., seinen hohen IQ preiszugeb­en?“Raigers Konter: „Das habe ich gut gemacht, oder?“

Als „tatauslöse­nd“sah die Psychologi­n, die mit ihren Ausführung­en die von Psychiater Manfred Walzl abgegebene Einstufung als „zurechnung­sfähig“stützte, diese Abfolge: „Es kommt zum Streit. Die Frau kann ins Frauenhaus – mit den Kindern und dem Karenzgeld. Alen R. wird weggewiese­n. Das war drei Wochen vor der Tat. In diesen drei Wochen passierte die Tatplanung, davon bin ich überzeugt.“

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[ APA ] Auch am letzten Prozesstag in Weiß: Amokfahrer Alen R. – links im Bild: Gerichtsps­ychologin Anita Raiger.

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