Le Grand Paris – im Osten viel Neues
Europas größte Werbeagentur BETC siedelt um – vom Pariser Zentrum in einen Arbeitervorort. Nur exzentrisch oder Vorreiter für die neue Art zu arbeiten? Ein Lokalaugenschein im ehemaligen Silo lässt Zweiteres vermuten.
Wenn die französische PR-Agentur BETC mit Niederlassungen in London, Sao˜ Paolo und demnächst auch Los Angeles mit Sack und Pack und 800 Mitarbeitern das Zentrum von Paris verlässt, um in den Pariser Osten, nach Pantin, umzuziehen, könnte man das als würdevollen Startschuss für das Projekt Grand Paris sehen.
Denn der direkt vor den Toren der Hauptstadt liegende Arbeitervorort Pantin ist endgültig aus seinem Dornröschenschlaf erwacht und entpuppt sich gerade als strategischer Ausgangspunkt für Urbanisten: Der Periph´erique´ oder „periph“, wie die Pariser ihre Stadtautobahn nennen, die Paris Intramuros von seinen Vororten trennt, ist nur ein paar Kilometer von der Metrostation Eglise de Pantin entfernt. Ein paar Schritte vom Metroausgang landet man zwischen verwackelten Ziegelbauten, Baggern und ein paar unscheinbaren Wohnhäusern aus den 1970er-Jahren am Canal de l’Ourq. Radikaler Stimmungswandel: Vom Vorstadtambiente wird man ganz ohne Vorwarnung in das grüne Idyll katapultiert – ein Ausflugsboot voller abenteuerlustiger Touristen tuckert vorbei, ein paar Jogger und Radfahrer beim Morgensport, eine chinesische Truppe konzentriert sich beim Qi Gong.
Flagship mit Apfelbäumen
Noch vor ein paar Jahren ein Paradies für Pariser Graffitikünstler, klebt das neue BETCFlagship wie ein moderner Ozeandampfer stolz und würdig am Ufer. 20.000 Quadratmeter und ein Budget von 45 Millionen Euro investierte Europas größte PR-Agentur in ihren kreativen Thinktank BETC, der seit Jahren so prestigeträchtige Marken wie Vuitton, Danone, Evian oder Air France betreut. Drei Jahre dauerten die Bauarbeiten für die aufwendige Renovierung des ehemaligen Pariser Getreidedepots. „Doch bereits fünf Jahre vor dem ersten Spatenstich wurde am Zeichentisch, den Büros der Urbanisten sowie des Bürgermeisters von Pantin verhandelt, gefeilscht, diskutiert“, erzählt Architekt Frederic Jung bei der Presseeröffnung in Paris. Von diesen emblematischen Gebäuden aus wurden bis in die 1930er-Jahre direkt vom Canal de l’Ourq die nahegelegene Getreidemühle von Pantin und von dort aus alle Bäcker der französischen Hauptstadt beliefert. Der Stacheldraht um die leer stehenden Getreidedepots wurde entfernt, das Kopfsteinpflaster und das Unkraut zwischen den aufgelassenen Gleisen sprießt aber immer noch hartnäckig zwischen Betonpfosten und Glasfassaden. Auf der Dachterrasse im 7. Stock bestätigt der Panoramablick auf Eiffelturm und Industriemuseum La Villette, dass man wirklich in Paris ist. „Wir haben sogar den Getreidesilo renoviert, obwohl er als Bürogebäude nicht nutzbar war. Hier sind heute die Bienenwaben für den Honig von BETC untergebracht“, erzählt Jung.
Auch die Schilder aus den 1930er-Jahren wurden restauriert und wiederverwendet, um die Theatralik des Ortes zu bewahren. Die komplette Struktur blieb erhalten, nur das Interieur wurde modernisiert. Und begrünt. „Wir wollten kein steriles Gebäude schaffen, sondern einen Ort, an dem jeder seine Kreativität ausleben kann. Deshalb haben wir die Graffiti zwar entfernt, aber in einem Bildband verewigen lassen“, erklärt Jung. Auch der Panoramablick auf den Canal und die Spitze des Eiffelturms bis zur Skyline des Büroviertels la Defense am anderen Ende von Paris sind inkludiert.
Apfelbäume, Sitzmöbel von Fermob, Kieswege und Gemüsegärten mit Karotten und Salathäupln auf der Dachterrasse gehören ebenso zum Projekt wie der Fitnessraum mit Fensterfront in XL im Erdgeschoß, die Schlafzelle mit 30 Betten für die Büro-Siesta und die intimen Kojen mit knallroten Tastentelefonen im Vintagestil, in die man sich im kleinen Team für Gespräche oder Minikonferenzen zurückziehen kann.
Fix zugeteilte Arbeitsplätze gibt es im neuen Firmensitz, der einen eigenen Radiosender besitzt und Musiker wie Beth Ditto produziert, genauso wenig wie Festplatten im Laptop der Mitarbeiter. In der Agentur, die sich als kunstaffiner Thinktank sieht, der „auch ganz nebenbei PR leistet“und wo regelmäßig Events, Ausstellungen und Konzerte stattfinden, wurden Hierarchien abgeschafft. „Jedes Dossier ist für jeden zugänglich, Praktikanten sitzen neben Seniorchefs, Privatfotos von Hund oder Kind ver- schwinden im Spind“, erläutert Remi Babinet, einer der drei Direktoren von BETC die neue Philosophie des Hauses. Betriebsküche und Restaurant, wo renommierte Küchenchefs als Special Gueststar für das komplette Team von BETC aufkochen sollen (möglichst bio, regional, nachhaltig), fungieren gleichzeitig als Bibliothek, die Abteilung Documentation wurde bewusst in den Restaurantbereich integriert. „Schließlich sind Essen und Wissen eng miteinander verbunden“, meint Jung.
Der Galerist Thaddeus Ropac hat sich mit seinem neuen Museum ein paar Straßen weiter in einer ehemaligen Metallwarenfabrik niedergelassen, die Ateliers von Chanel und Herm`es liegen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Pantin, das neue Brooklyn?