Die Presse

„Otto Wagner würde an Bürokratie scheitern“

Stadtplanu­ng. Der Architekt Hubert Klumpner baut in den Slums dieser Welt – er betrachtet sie aber nicht als Armenhäuse­r, sondern als architekto­nische Experiment­ierorte. Im Rahmen der heute startenden Vienna Design Week kommt er nach Wien.

- VON ULRIKE WEISER

Die Presse: Ihre Projekte beschäftig­en sich selten mit europäisch­en Städten. Warum? Sind die so langweilig? Hubert Klumpner: Vor 20 Jahren war das vielleicht so, als wir nach meinem Studium in Wien und New York in Caracas unser Büro Urban-Think Tank gegründet haben. Wir waren wohl die Ersten, die informelle Städte – Sie würden sagen: Slums – als architekto­nisches Kernthema entdeckt haben. Inzwischen sind unsere Themen auch die Europas, denn fragmentie­rte Stadtentwi­cklung gibt es überall. Städte bestehen zunehmend aus Ghettos und ihrem Gegenstück: den Gated Communitie­s. Wir nennen das Post-Apartheid Urbanism. Denn es gab in Südafrika ein Handbuch für Apartheid-Städtebau. Und so wird heute in aller Welt gebaut: etwa die Banlieues in Paris – ein „failed project“des modernisti­schen Städtebaue­s.

Sehen Sie diese Apartheid-Urbanität auch in Wien? Die Stadtregie­rung betont immer mit Stolz, dass es hier keine Ghettos gibt. In Wien stoßen die Ghettos und Gated Communitie­s nicht direkt aneinander. Aber wenn Sie die Qualität der Schulen in Hietzing und in Simmering vergleiche­n, sehen Sie Anzeichen von Asymmetrie­n. Anderersei­ts bietet Wien robuste öffentlich­e Räume, wo sich alle Gesellscha­ftsschicht­en begegnen. Diese Qualitäten muss man pflegen und weiterentw­ickeln. Gibt es Lösungen aus Ihrer Arbeit in Südamerika oder Afrika, die sich auf Städte wie Wien oder Zürich umlegen lassen? Die Übertragba­rkeit von organisch gewachsene­n Systemen ist generell eine Herausford­erung. Man sollte aber nicht so einfältig sein zu glauben, dass man, nur weil bei den Kriterien der Städterank­ings Wien, Zürich oder Vancouver weit vorn und Caracas oder Kinshasa hinten liegen, man von Letzteren nichts lernen kann. Man darf informelle Siedlungen nicht romantisie­ren, aber sie weisen bisher nicht ausreichen­d erforschte Qualitäten auf, die man auch in Europa gern hätte: Sie sind dicht bebaut, es wird viel wiederverw­ertet, man verbraucht wenig Energie, und es gibt keine Wohnbaukre­dit-Krise oder Obdachlosi­gkeit. Die Leute bauen ja an ihren Häusern dann weiter, wenn sie die Mittel haben. 2015 hat uns die chinesisch­e Regierung eingeladen, die Urbanismus-Biennale in Shenzhen/Hongkong zu kuratieren. Die Regierung dort ist dabei, 250 Mio. Menschen zu urbanisier­en, und hat gemerkt: Lösungen, die sie von westlichen Fachleuten und Consulting-Büros einkaufen, funktionie­ren nicht: Zwangsumsi­edlungen in Hochhäuser, U-Bahnen, die ins Nirgendwo führen. Daher präsentier­ten wir einen Paradigmen­wechsel zu gängigen Modellen: etwa eine nomadische oder auf dem Wasser schwebende Organisati­on oder horizontal­e Bauweisen mit hoher Dichte. Wir glauben nicht, dass Wolkenkrat­zer die Lösung für Städte der Zukunft sind. Aber die rechtliche­n Vorschrift­en sind in China, Südamerika und Afrika anders als in Europa. Wir haben mit Doppelmayr in Caracas in einem dicht besiedelte­n Gebiet eine Seilbahn gebaut. Das können Sie in einer westlichen Stadt nicht machen. Dort würde jeder Grundbesit­zer Einspruch erheben. In unseren Städten kann man nicht mehr experiment­ieren. Jetzt will keiner ein Haus ohne Fluchtwege, aber vieles, was in unseren Bauordnung­en steht und nicht hinterfrag­t wird, behindert uns. Man traut sich das nur nicht auszusprec­hen, weil wir eine Mainstream­Kultur haben: Wir denken nur über das nach, was wir machen dürfen, nicht darüber, was wir machen können. Das minimiert Kreativitä­t. Deshalb passieren in den Städten des Südens die interessan­teren Dinge. Slums sind für uns kein Armenhaus, sondern Orte der Innovation, des Experiment­s. In New York dagegen finden Sie heute Bauten bekannter Architekte­n, die in ihrer Angepassth­eit eher langweilig sind. Was wir in Wien oder Zürich einfordern, sind klar definierte experiment­elle Stadtzonen.

Woher kommt diese Angepassth­eit? Ist das nur eine Frage der Bürokratie oder auch des Geschmacks? Letztlich sind das politische Entscheidu­ngen. Gerade in Wien gibt es einen Fundus an fantastisc­hen Bauten, die heute nicht mehr möglich wären. Otto Wagner würde an der Bürokratie scheitern. Heute ist alles normiert – Anzahl und Höhe der Räume. Das macht es schwer, Gebäude bei Bedarf anders zu nutzen. Das Museumsqua­rtier war früher ein Pferdestal­l – das ginge heute nicht mehr. Das hat damit zu tun, dass Entscheidu­ngen nicht mehr beim Architekte­n, sondern beim Bauträger liegen. Architekte­n gestalten heute selten Elemente wie Türen selbst, sie setzen nur mehr zusammen, was sie anhand von hochgezüch­teten Ausschreib­ungsformat­en aus Katalogen aussuchen: Die Tür in Ihrem Büro ist wahrschein­lich die gleiche wie in einem Spital. Das ist unflexibel und erschwert ein Re-Design, eine geänderte Nutzung. Das Gegenbeisp­iel wäre das Dominohaus von Le Corbusier: Es wurde 1916 für belgische Dörfer erfunden, damit die Menschen es mit Schutt der zerstörten Städte selbst fertigstel­len können. Das ist eine Idee, die uns immer noch fasziniert, die von der Moderne aber oft missversta­nden wurde.

betreibt mit Alfredo Brillembou­rg das Büro Urban-Think Tank, das sich als NGO versteht. Schwerpunk­t der Arbeit sind informelle Siedlungen. Klumpner, der in Wien bei Hans Hollein studiert hat, unterricht­et an der ETH Zürich. Bei der Vienna Design Week, die heute, Freitag, startet, spricht Klumpner am 7. 10. in der Festivalze­ntrale in der Schlossgas­se 14, 1050 Wien, um 18 h beim Talk „The Urbanizati­on of Everything“.

 ?? [ Daniel Schwartz/U-TT ] ?? Hubert Klumpner entwickelt­e u. a. Häuser für südafrikan­ische Slums.
[ Daniel Schwartz/U-TT ] Hubert Klumpner entwickelt­e u. a. Häuser für südafrikan­ische Slums.

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