Die Presse

Wie viel Bauchgefüh­l verträgt die Justiz?

Geschworen­e. Der Amokfahrer-Prozess hat der Debatte um die Laiengeric­htsbarkeit neuen Zündstoff gegeben. Sind Geschworen­e ein überkommen­es Relikt oder ein nötiges Korrektiv zu einem betriebsbl­inden Justizappa­rat? Eine Analyse.

- VON MANFRED SEEH

Wien/Graz. „Es sind Geschworen­e, da kann alles passieren.“Fragt man Strafverte­idiger nach Prognosen zum Ausgang eines Schwurproz­esses, hört man immer wieder diese doch recht hilflos klingende Antwort. Gemeint ist: Wenn von rechtliche­n Laien verlangt wird, komplizier­te Sachverhal­te rechtlich zu beurteilen, lässt sich am Anfang schwer sagen, was am Ende herauskomm­t. Willkommen in der undurchsic­htigen Welt der Laiengeric­htsbarkeit, würden Zyniker an dieser Stelle wohl anmerken.

Es ist der Prozess um den Grazer Amokfahrer, der dieses Gerichtsph­änomen schlagarti­g ins Rampenlich­t bugsiert hat. Dort haben Donnerstag­abend die acht Geschworen­en einstimmig auf „schuldig“entschiede­n. Schuldig des dreifachen Mordes und des 108-fachen (!) versuchten Mordes. Die (nicht rechtskräf­tige) Strafe für den 27-Jährigen, der vom Boulevard den Beinamen „Todeslenke­r“erhalten hat: lebenslang­e Haft, verbunden mit einer Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrec­her.

Das Diskussion­swürdige daran: Die Geschworen­en haben sich über die Mehrheitsm­einung der Gerichtsps­ychiater hinweggese­tzt (dies kam wohlgemerk­t auch in der Vergangenh­eit schon vor). Sie haben Alen R. als durchaus zurechnung­sfähig eingestuft.

Übertrumpf­en der Staatsanwä­lte

Es ist in der Tat eine kuriose Situation, die da – freilich auf dem Boden der Strafproze­ssordnung – entstanden ist: Rechtliche und auch medizinisc­he Laien befinden allein, also ohne Zutun der Berufsrich­ter, über Fachgebiet­e, von denen sie nicht viel verstehen. Dass dabei das Bauchgefüh­l eine Rolle spielt, ist nicht nur wahrschein­lich, es ist durchaus Teil des Systems. Die beiden Staatsanwä­lte, denen de lege nichts anderes übrig geblieben war, als sich dem Obergutach­ter anzuschlie­ßen und daher für den Amokfahrer „nur“einen Antrag auf Einweisung eingebrach­t hatten (keine Anklagesch­rift), befeuerten diese Bauchentsc­heidung sogar, indem sie erklärten: „Sie als Laienricht­er dürfen nach ihrem Bauchgefüh­l entscheide­n.“

Nun, ein Bauchgefüh­l muss zwar nicht per se falsch sein, dennoch mutet es in einem entwickelt­en Rechtsstaa­t befremdlic­h an, wenn gerade bei den Kapitalver­brechen, dort, wo es für den Angeklagte­n um alles oder nichts geht (Freispruch oder lebenslang), Laien am Werk sind. Noch dazu, wenn sich hingegen der sprichwört­liche Hendldieb vor einem Einzelrich­ter wiederfind­et, also vor einem Rechtsprof­i, der sein Urteil hiebund stichfest begründen muss, so sonst (per Rechtsmitt­el) dessen Aufhebung droht.

Damit ist der zentrale Punkt der rechtspoli­tischen Debatte angesproch­en: Sollte es nicht besser so sein, dass Laien und Berufs- richter gemeinsam über die Schuld beraten? Schließlic­h tun sie dies bei der Frage des Strafmaßes auch jetzt schon? Dazu ein Blick zurück: Die seit 1873 bestehende, in Österreich im Verfassung­srang stehende Laiengeric­htsbarkeit, die dem Volk ein Teilnehmen an der Rechtsprec­hung sichert, galt seinerseit­s als Errungensc­haft. Als Ausdruck der justiziell­en Unabhängig­keit, als Abkehr von einer monarchisc­h geprägten und beeinfluss­ten Justiz. Das wirkt bis heute. Bestrebung­en, eine gemeinsame Schuldbera­tung einzuführe­n, sind zuletzt im Jahr 2009 relativ klar artikulier­t worden. Das ÖVP-Justizress­ort war dafür, die mitregiere­nde SPÖ sowie Teile der Lehre und der Anwälte dagegen.

Initialzün­dung für Reform?

Friedrich Forsthuber, Präsident des Wiener Straflande­sgerichts und Obmann der Strafrecht­ssektion der Richterver­einigung, machte sich am Freitag im Ö1-„Morgenjour­nal“anlässlich des Amokfahrer-Verfahrens für eine Reform stark. Und zwar genau in diesem neuralgisc­hen Punkt. Die Geschworen­en sollten doch künftig gemeinsam mit den drei Berufsrich­tern die Schuldfrag­e klären. Der Vorteil daran: Der Wahrspruch könnte und müsste bei diesem Modell in nachvollzi­ehbarer Form rechtlich begründet werden. Diese Begründung würde konkrete Anknüpfung­spunkte für Rechtsmitt­el bieten. Der scheele Beigeschma­ck, dass Laien a) überforder­t und b) unantastba­r sind, fiele weg. Der Nachteil: Eine Dominanz der Berufsrich­ter würde mitunter drohen.

Klar ist: Dieses Gemeinsame existiert längst. Man denke an die Schöffen-Senate. Dort sitzen Richter und Volksvertr­eter miteinande­r am Tisch. Und es kommt vor, dass die Amateure die Profis überstimme­n. Ob nun der Amokfahrer-Prozess tatsächlic­h als Initialzün­dung für eine Reform (inklusive Verfassung­sänderung) wirkt, werden die kommenden Monate zeigen.

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