Der Nachlass eines Kinogiganten
Retrospektive. Das Gartenbaukino zeigt bis 18. Oktober eine umfassende Werkschau von Stanley Kubrick: Der Deutungswahn um seine Filme nimmt kein Ende.
Kubrick: Das ist neben Hitchcock wohl der Regisseursname, der auch bei weniger kinoaffinen Menschen die meisten unmittelbaren Assoziationen weckt. Nicht nur in Bezug auf ganz bestimmte Bilder, Töne, Szenen und Atmosphären, sondern auch auf die Person dahinter. Kubrick, das heißt: Genie und Visionär, Renegat und Innovator, Exzentriker und Eigenbrötler, Kontrollfreak und Perfektionist, Misanthrop und Eremit. Die ostentative Zurückgezogenheit der Regielegende zu Lebzeiten beförderte eine Mythenmaschinerie, die bis heute nicht zum Erliegen kam, und der anhaltende Kubrick-Kult zeitigt immer wieder neue Früchte, die exklusive Einblicke in Leben und Werk des Meisters versprechen.
Dabei könnte die Wahrheit viel prosaischer sein, als viele glauben. Schließlich hat Kubrick selbst gesagt, er würde nur so viele Takes drehen, weil die Schauspieler immer ihren Text vergessen. Aber die obsessive Natur seines Stilwillens steckt nach wie vor an. Nicht umsonst ist er der Regisseur, dem Verschwörungstheoretiker zutrauen, die Mondlandung gefälscht zu haben. In Kubricks Schaffen ab „2001: Odyssee im Weltraum“sind die Einstellungen dermaßen offenkundig bis ins letzte Detail durchkalkuliert, dass man fast nicht anders kann, als jede Einzelheit mit Bedeutung aufzuladen. Welche Blüten dieser Deutungswahn treiben kann, hat die Doku „Room 237“gezeigt: Darin ergehen sich Hobbyexegeten in aberwitzigen Interpretationen des Horrorklassikers „The Shining“. Einer wittert eine Parabel auf den Genozid an den Ureinwohnern Amerikas, der nächste glaubt, auf einem peripheren Wandposter passend zur labyrinthischen Struktur des Films die Schemen eines Minotaurus zu erkennen.
In jeder Hinsicht großes Kino
Bei all ihrer formalen Geschlossenheit und vermeintlichen Kälte – Nouvelle-Vague-Regisseur Jacques Rivette nannte sie die Produkte einer „Maschine bar menschlicher Gefühle“– sind Kubricks Arbeiten als Kunstobjekte erstaunlich ambivalent, und trotz einer unverkennbaren Handschrift gleicht letztlich kein Film dem anderen. Davon kann man sich bis 18. Oktober im Gartenbaukino überzeugen, wo zum ersten Mal seit 15 Jahren eine umfassende Werkschau des amerikanischen Ausnahmefilmers präsentiert wird.
Der Austragungsort passt mit seiner Mammutleinwand ideal, denn groß ist Kubricks Kino in jeder Hinsicht. Es geht in die Breite („2001“und das Sandalenepos „Spartacus“werden auf 70 mm gezeigt), in die Länge (die Hälfte der Filme überschreitet die Zweistundenmarke) und in die Tiefe (eines von Kubricks stilistischen Markenzeichen ist die blickfangende Wirkung zentralperspektivischer Kamerafahrten). Man könnte Kubrick als monolithischen Monumentalavantgardisten bezeichnen, der dennoch darum bemüht war, den Bezug zum Publikum aufrechtzuerhalten. Die Leitmotive seines Schaffens sind, sehr vereinfacht gesagt, Sex und Gewalt (kontroverse Stoffe wie „Lolita“und „A Clockwork Orange“zogen ihn an), und auf seine Weise blieb er stets ein Genreregisseur, wie es schon die frühen Noir-Experimente „Killer’s Kiss“und „The Killing“angedeutet hatten. Aber eben einer, der sich im Rahmen des Genres maximale künstlerische Freiheit und Autorität zu verschaffen wusste.
Kubricks langjähriger Produzent Jan Harlan wird in Wien Einführungen zu einigen Vorstellungen halten, zudem beleuchten drei Vorträge unterschiedliche Aspekte von Kubricks Werk: Filmtheoretiker Drehli Robnik etwa wird über dessen eigentümlichen Realismus sprechen, der für ihn ein politisches Moment birgt. Im Gespräch mit der „Presse“nennt er als Beispiel „Full Metal Jacket“mit seiner eindrucksvollen Demonstration militärischer Dressurtechniken und der drastischen Abweichung der Schlusssequenz vom orientalistischen, kolonial adaptierbaren Vietnamkrieg-Bild, das Mitte der 1980er kursierte. Auch das ist eine der Facetten des, man kann es nicht anders sagen, unsterblichen Nachlasses des Kinogiganten Kubrick.