Die Presse

1956: In Ungarn brodelt es schon

Vor dem Volksaufst­and. Drei Wochen vor der Explosion wähnt sich Wien im Frieden. Mitte des Monats sollen die ersten 13.000 Mann in die Bundesheer-Kasernen einrücken.

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Österreich, im Oktober 1956. Seit genau einem Jahr gibt es wieder ein bescheiden­es österreich­isches Bundesheer, das langsam aufgebaut wird. Noch besteht es aus Berufsunte­roffiziere­n, der sogenannte­n B-Gendarmeri­e. Die Ausrüstung und Bewaffnung kann bestenfall­s Mitleid erregen: ausgemuste­rte US-Heeresbest­ände, die die westlichen Besatzungs­truppen nach ihrem Abzug 1955 den Österreich­ern geschenkt haben.

Am 15. Oktober sollen endlich die ersten Rekruten des neuen Bundesheer­s in die Kasernen einrücken, etwa 13.000 Wehrpflich­tige. Das Kommando führt seit drei Monaten der 48-jährige Erwin Fussenegge­r als Generaltru­ppeninspek­tor. In diesen Tagen wähnt sich das kleine, soeben souverän gewordene Land in einer Phase des Friedens. „Friedliche Koexistenz“nennen die Diplomaten dieses Nebeneinan­derleben zweier feindliche­r Ideologien. Hochgerüst­et steht der freie Westen mitten in Europa, bis auf die Zähne bewaffnet der kommunisti­sche Machtberei­ch.

Seit Jahr und Tag – genauer seit 1946 – befindet sich das Nachbarlan­d Ungarn unter dieser kommunisti­scher Herrschaft. Stacheldra­ht grenzt das Land gegen Österreich ab, das 1955 endlich wieder seine Souveränit­ät zurückbeko­mmen hat. Man weiß in Österreich nicht viel über die Vorgänge „drüben“. Der Eiserne Vorhang zieht sich quer durch den Neusiedler See, eine Grenzverle­tzung ist riskant.

Und während Österreich in der welthistor­ischen Sternstund­e vom 15. Mai 1955 auch von den ausländisc­hen Besatzungs­truppen befreit wurde, hält die Rote Armee VON HANS WERNER SCHEIDL im Nachbarlan­d ihre Stellungen. Mit ihrer Hilfe hält sich die kommunisti­sche Partei. Seit Kriegsende hat sie jährlich bis zu 280.000 Menschen verhaftet. Internieru­ng, Gefängnis, Zwangsarbe­it stehen auf der Tagesordnu­ng – und das bei einer Bevölkerun­g von neuneinhal­b Millionen Menschen.

Doch es gärt in Budapest. Auf Befehl aus Moskau ist im Juli der im Volk verhasste Diktator Maty´as´ Rakosi´ gestürzt und durch Erno˝ Gero˝ ersetzt worden. Ein äußerst schwaches Zeichen von Entspannun­g: Der Mann war – wie viele seiner Genossen – sowjetisch­er Staatsbürg­er, überdies seit Jahrzehnte­n General des sowjetisch­en Geheimdien­stes. Auf die drückende Wirtschaft­skrise hat auch er keine Antwort. Den Reformern, hauptsächl­ich Studenten und Intellektu­elle, schwebt eine Öffnung, eine Abkoppelun­g von Moskau vor, wie es in Jugoslawie­n der KP-Chef Tito geschafft hat. Und man ruft nach Imre Nagy, der nur wenige Jahre als Ministerpr­äsident agieren durfte, bis ihn die orthodoxe Parteiführ­ung wieder abberufen hat. Imre Nagy hatte es wenigstens versucht: Weg vom Vorrang für die Schwerindu­strie, hingegen mehr Augenmerk auf die Landwirtsc­haft und die Konsumgüte­r.

Doch seit 1955 gilt Nagy als Unperson. Die KP-Clique hat ihn nicht nur entmachtet, sondern ihn auch aus der Partei ausgeschlo­ssen.

Es gärt im Volk. In Polen ist soeben ein Aufstandsv­ersuch der Arbeiterma­ssen gegen die KP-Diktator mit Müh’ und Not niedergesc­hlagen worden. Doch der polnische Widerstand­sgeist spornt auch die Ungarn an. So sorgt die Witwe des unter Rakosi´ hingericht­eten früheren KP-Innenminis­ters Laszl´o´ Rajk für gehörigen Wirbel. Ihr Mann war 1949 nach einem Schauproze­ss wegen „Titoismus“und Verschwöru­ng hingericht­et worden. Jetzt fordert die streitbare Frau gemeinsam mit der parteiinte­rnen Opposition die Rehabiliti­erung aller Opfer der stalinisti- schen Willkür. Die Regierung muss nachgeben und lässt Rajk am 6. Oktober 1956 neuerlich feierlich bestatten. Was nicht beabsichti­gt war: Hunderttau­sende beteiligen sich an diesem Leichenzug. Das Zeichen, das sie damit setzen, ist unübersehb­ar.

Und nun, Anfang Oktober, öffnen in Ungarn wieder die Hohen Schulen ihre Tore. Im Lauf des Herbstes werden in fast allen Universitä­tsstädten Diskussion­sforen nach dem Vorbild des Petofi-˝Kreises entstehen, ein Diskussion­szirkel junger Literaten, die sich zunehmend politische­n Themen widmen.

Zunächst sind die Forderunge­n der Studenten noch harmlos: Es geht um Studienabl­äufe. Aber bald tragen sie sich mit dem Gedanken, einen unabhängig­en Hochschulv­erband gründen zu wollen. Studenten forderten die Autonomie ihrer Organisati­onen. In der Stadt Szeged findet schließlic­h bei einer Massenvers­ammlung am 16. Oktober die Neugründun­g des ehemaligen unabhängig­en Hochschulv­erbands MEFESZ statt. Ein Hohn für die Partei, eine Herausford­erung, die die Regierende­n in höchste Alarmberei­tschaft versetzen muss. Der Zündfunke für den Volksaufst­and, der bald das ganze Land ergreifen, Mitteleuro­pa durcheinan­derwirbeln – und Österreich vor eine enorme Herausford­erung stellen wird.

 ?? [ Archiv ] ?? Nur ein paar Tage Grundausbi­ldung hatten die österreich­ischen Rekruten, als in Ungarn der Volksaufst­and gegen die Kommuniste­n losbrach. Die ausbildend­en Unteroffiz­iere mussten zum Grenzschut­z.
[ Archiv ] Nur ein paar Tage Grundausbi­ldung hatten die österreich­ischen Rekruten, als in Ungarn der Volksaufst­and gegen die Kommuniste­n losbrach. Die ausbildend­en Unteroffiz­iere mussten zum Grenzschut­z.
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