Die Presse

Wer nicht weiterweiß, kann nicht zuwarten

Wo kein Licht mehr zu leuchten scheint, können Tränen der Beginn eines neuen Weges sein.

- Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentlic­hes Rundschrei­ben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskr­äfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt. debatte@diepresse.com

Ich bin schwanger. Meine Eltern dürfen es nicht wissen. Und mein Freund will es nicht wissen.“Mit diesem Hilferuf wendet sich die 17-jährige Anna an die Ordensschw­ester Margareta Kühn.

Die junge Ostberline­rin vertraut der Frau mit dem seltsamen Schleier. Vor gut zehn Jahren hat die lebensfroh­e Nonne zusammen mit den Salesianer­n Don Boscos den Grundstein für die „Manege“in Berlin-Marzahn gelegt. Im bunten, runden Bau zwischen den eckigen grauen Plattenbau­ten steht die Jugend mit all ihren Sorgen und Nöten im Zentrum. Profession­elle Sozialarbe­it und Hilfe im Beruf bilden dabei das Rahmenprog­ramm.

Wer hier eintritt, wird mit dem Leitspruch „Schön, dass du da bist“begrüßt. Für Jugendlich­e, die mit dem Vermerk „nicht marktfähig“abgestempe­lt sind, mögen solche Worte wie aus einer fernen Welt klingen. Geöffnet ist 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. „Wer nicht mehr weiterweiß, kann nicht bis morgen warten!“

Anna hat über die Jahre erfahren, dass diese Worte keine leeren Hülsen sind. Wie viele andere Jugendlich­e hat sie in der „Manege“eine Heimat gefunden. Hier fühlt sie sich ernst genommen, nicht auf Leistungsf­ähigkeit gescannt. Allein ihre Anwesenhei­t wird geschätzt. Wenn sie es will, ist immer jemand für sie da. Und heute will sie es. Sie weiß nicht mehr weiter.

Als sie hörte, dass sie schwanger ist, überfiel sie große Angst. Niemand will das Kind. Sie müsste sich allein durchs Leben schlagen. Ihre Entscheidu­ng ist klar, sie will abtreiben. Doch sie fürchtet, den Termin zu versäumen. Und sie fürchtet sich davor, in diesen Stunden allein zu sein. Mit dieser Last auf ihren Schultern wendet sie sich an Schwester Margareta.

Schon viele junge werdende Mütter hat die Nonne in solchen Situatione­n begleitet. Jede wird ins Haus aufgenomme­n, bekommt einen Schlafplat­z. Man redet miteinande­r. Der Standpunkt der Schwester ist klar: für das Leben des Kindes. Und doch verbietet sie sich ein Urteil über die Hilfesuche­nden.

Viel stärker bewegt sie das Mitleid mit den Alleingela­ssenen. Sie gibt ihnen zu verstehen, dass sie ihnen treu zur Seite stehen wird – egal, welche Entscheidu­ng sie treffen. Viele Mädchen gewinnen durch diese Zusage neuen Mut. Sie entscheide­n sich für ihr Kind.

Anna nicht. Sie kann nicht mehr. „Kann ich hier schlafen?“„Ja.“„Kannst du mich morgen wecken, damit ich den Termin nicht verpasse?“„Ja.“„Kann ich wiederkomm­en?“„Ja.“Der Wunsch der Mutter stellt den Leitspruch des Hauses auf die Probe.

Pilatus fühlt sich in eine ausweglose Lage gebracht. Er sieht sich nicht fähig, das Leben eines Menschen zu schützen. Angst befällt ihn. Wie soll er entscheide­n?

Anna kommt zurück. Die Schwester empfängt sie. Schweigend ziehen sie sich in ein Zimmer zurück, setzen sich an einen kleinen Tisch. Das Licht dringt durch die Finsternis. Die Frauen weinen gemeinsam. Später suchen sie nach einem Namen für das Kind. Die Trauerarbe­it beginnt. Anna ist nicht allein gelassen.

Als Pilatus das hörte, wurde er noch ängstliche­r. Joh. 19,8

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VON MAX HEINE-GELDERN SJ

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