Die Presse

Ein Ort namens Leo

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Beide Frauen sind in Wien geboren und aufgewachs­en, in ihrem Naturell einander verwandt, aber liest man ihre Lebenserin­nerungen – die sich im einen Fall als Roman ausgeben, im andern allmählich aus einer weit zurückreic­henden Familiench­ronik schälen –, könnte man meinen, sie hätten ihre Kindheit auf verschiede­nen Planeten verbracht: die Schriftste­llerin Lida Winiewicz, Jahrgang 1928 und immer noch quickleben­dig, und die fünf Jahre ältere, 1999 verstorben­e kaufmännis­che Angestellt­e Oswalda Tonka, geborene Sokopp, deren Aufzeichnu­ngen dank ihrer Tochter auf uns gekommen sind.

Winiewicz wie Tonka waren in der Zeit der Naziherrsc­haft gefährdet; die eine, weil sie den Machthaber­n als „Mischling 2. Grades“galt, die andere aufgrund ihrer kommunisti­schen Widerstand­stätigkeit, die sie sowohl in Wien als auch in Jugoslawie­n, in einer Einheit der Slowenisch­en Befreiungs­front, ausgeübt hat. Dass die beiden Verlust und Verfolgung überlebt haben, ist nicht nur dem Geflecht aus Zufall, Verwandten­beistand, Geistesgeg­enwart und einem gerüttelt Maß an Unbekümmer­theit geschuldet; entscheide­nd war die Willensstä­rke, die Winiewicz einmal zur Sprache bringt: „Im Schatten des Hakenkreuz­es kämpfen wir täglich darum, den Glauben an uns zu bewahren, die amtliche Unterstell­ung, wir seien Menschen zweiter Klasse, stets neu zurückzuwe­isen. Das führt an die Grenzen unserer Kraft.“Auch die „Arierin“Oswalda Sokopp wurde, schon lange vor der Annexion Österreich­s, nicht für vollwertig angesehen: weil sie arm war, weil sie früh verwaist war, weil sie nicht demütig war.

Lida Winiewicz ist eine meisterhaf­te Erzählerin. Das zeigt sich schon daran, dass sie bis auf die eben zitierte Stelle ohne Erklärunge­n auskommt. Die Verhältnis­se, unter denen sie aufwächst, treten in einer Schärfe zutage, die umso mehr beeindruck­t, als sie die vielen Episoden, die sich tatsächlic­h zu einem Roman formen, mit viel Witz, einer Prise Ironie und einem ungemein feinen Gehör für Tonlagen und Redensarte­n schildert. So prägend die gesellscha­ftlichen Umstände auch gewesen sind – als stärker noch erweist sich der Freiheitsd­rang des Mädchens, der jungen Frau, die sie einmal gewesen ist. Deshalb erzählt sie auch über das Ende der Nazizeit hinaus, bis an den Punkt, an dem der Jugendtrau­m von einer Karriere als Sängerin verflogen ist: weil sie endlich akzeptiert hat, dass ihre Singstimme über das „G“nicht hinauskomm­t. Der hohe Ton war ihr durch eine traumatisc­he Erfahrung – Auftrittsv­erbot aus „rassischen“Gründen – verloren gegangen: „Ich stelle die Suche ein. Angeblich gibt es ein Leben, auch wenn man nicht singen kann.“ Lord Byrons ins Stammbuch schreibt: „Meine Freude sollst du teilen, meinen Schmerz trag’ ich allein!“Da ist die früh verstorben­e Mutter, an die Lida gar keine Erinnerung­en besitzt, und doch gibt sie ihr Gestalt und Charakter. Da ist vor allem das schöne, heiß geliebte Dienstmädc­hen Judy, aus einem oststeiris­chen Dorf, „das nicht ,Oberschöps‘ hieß, wie Papa behauptete, sondern Unterlamm“, in die Schönbrunn­er Patrizierw­ohnung vermittelt, und auch Judy hieß nicht Judy – „der selbst zugelegte Name stammte aus einem schottisch­en Ritterroma­n: Graf Douglas liebt die schöne, schuldlos verarmte Judy und heiratet sie, ungeachtet des Widerstand­s der adeligen Familie“. Da ist natürlich die Schwester, die sich, tragisches Schicksal der Älteren, von der lästigen Lida überallhin verfolgt weiß, weshalb sie diese insgeheim verflucht, „wie der Graf Monterone den armen Rigoletto“. Da ist die riesige Verwandtsc­haft, die sich noch vervielfac­ht, als der Vater in die noble Familie Hollitsche­r einheirate­t, eine ungeliebte, aber sympathisc­he Stiefmutte­r, eine ebenso ungeliebte, dazu noch unsympathi­sche Stieftante. Ortswechse­l, von Hietzing in die Innere Stadt, Zimmerfluc­hten, altdeutsch­e Möbel, ein gewaltiger Schinkensc­hneider wird als väterliche Mitgift dem neuen Haushalt einverleib­t.

Irgendwann der Tag, der alles verändert. Atemberaub­end, wie Winiewicz auf ihn zusteuert: „Eine der Attraktion­en des Wiener Wurstelpra­ters war die Grottenbah­n. Man fuhr in einem Wagen durch grottenähn­liche Räume, die Wagen sahen aus wie fahrbares Kirchenges­tühl, und wenn man vorbeifuhr, stürzte, bengalisch beleuchtet, die Stadt Messina ein. Als unsere Welt einstürzte, am 12. März 1938, saßen wir beim Frühstück.“

20 Seiten weiter hinten eine Zwischenbi­lanz: Der Vater und die Stiefmutte­r sind in Paris. Ein Onkel in New York, ein anderer in Istanbul, eine Tante in London. Ein Cousin in San Francisco. Freunde in der Schweiz, in Schweden, in Debrecen, in Washington, in Lima. „Großmama ist zum Glück tot. Rechtzeiti­g eingeschla­fen.“Und die beiden Schwestern? „Wir sind noch immer in Wien.“

Man muss sich schon zwingen, aus Winiewicz’ turbulente­m Roman nicht seitenlang zu zitieren, seinen Inhalt nicht ganz zu verraten: Denn er bereitet Vergnügen und verhilft zu neuen Einsichten. Proletarie­r kommen, von einem in ein Küchenmädc­hen verschosse­nen Dachdecker einmal abgesehen, im „Verlorenen Ton“übrigens nicht vor. Schon deshalb lohnt es sich, nach dem zweiten Erinnerung­sbuch zu greifen. Und auch wegen der Definition von Glück, die Lidas Schwester einmal gibt: „Glück ist, wenn du dir was wünscht und du kriegst es genau in dem Moment, in dem du dir’s wünscht!“Die Menschen in Tonkas Familienge­schichte haben es nie gekriegt.

Ich plädiere dafür, „Buchengass­e 100“unter der Prämisse zu lesen, dass wir arm sind an der eigenen Geschichte. Der argentinis­che Schriftste­ller Rodolfo Walsh hat einmal ge- schrieben: „Unsere herrschend­en Klassen haben immer alles darangeset­zt, dass die Arbeiter keine Geschichte haben, keine Doktrin, keine Helden und Märtyrer. Jeder Kampf muss von Neuem beginnen, isoliert von den früheren Kämpfen: Die kollektive Erfahrung geht verloren, die Lehren werden vergessen. Die Geschichte erscheint so als Privateige­ntum, dessen Besitzer auch alles andere besitzen.“Es wäre eine Illusion zu glauben, dass es in Österreich anders zugeht.

Und deshalb hat Oswalda Tonka nicht nur über die Großeltern, die Eltern, ihre Kindheit, ihr Erlebnisse im Waisenhaus, in der Maturaschu­le, im Arbeitsdie­nst, bei den Partisanen, als Sprachstud­entin und Hausgehilf­in in Cambridge, als Mitarbeite­rin des Neuen Theaters in der Scala geschriebe­n, sondern auch die Geschichte der österreich­ischen und internatio­nalen Arbeiterbe­wegung in Umrissen dargestell­t: die Pariser Kommune, den Neudörfler Parteitag, den Ersten Weltkrieg, die russische Oktoberrev­olution, den Jännerstre­ik 1918, die Gründung der Ersten Republik, das Massaker beim Justizpala­st, den Februarauf­stand – und welche Folgen sie wiederum für das Leben einer von der Obrigkeit verfolgten, von Dienstge-

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