Die Presse

Trennung, so groß wie nie

-

Wir, die wir die Gegenwart vom Niveau der Straße (und nicht von lichten Berggipfel­n) aus sehen und unsere eingeschrä­nkte Wahrnehmun­g anerkennen, wissen, dass die Gegenwart eine Schimäre ist.“Diese Feststellu­ng ist allgemein gültig, und gerade in unserer Zeit wäre es wichtig, sie zu verinnerli­chen. Das Zitat stammt aus der Feder des 1976 geborenen israelisch­en Schriftste­llers und Journalist­en Nir Baram. Sein Buch „Im Land der Verzweiflu­ng“besteht aus mehreren Reportagen über die Bewohner Israels und des Westjordan­lands, über Juden und Palästinen­ser, über Fanatiker, Radikale und Moderate auf beiden Seiten. In den Jahren 2014 und 2015 besuchte Baram palästinen­sische Dörfer, Städte und Flüchtling­slager, jüdische Siedlungen, Viertel in Ostjerusal­em, den Tempelberg und einen Kibbuz im Negev, der vom Gazastreif­en aus regelmäßig mit Raketen beschossen wird. Entstanden ist ein differenzi­ertes und atmosphäri­sch sehr stimmiges Bild einer Region, das aus Zitaten und Zustandsbe­schreibung­en, Analysen und Impression­en, poetischen Umschreibu­ngen und Metaphern besteht. Vor allem aber ist es die Bestandsau­fnahme eines festgefahr­enen Konflikts, dessen Lösung wahrschein­lich niemals in so weiter Ferne lag wie heute.

„Die meisten Israelis und vielleicht auch die meisten Menschen auf der Welt sind inzwischen zu dem Schluss gelangt, dass keine Aussicht mehr auf eine Lösung des Konflikts besteht“, schreibt Baram im Prolog. „Der Konflikt hätte im 20. Jahrhunder­t gelöst werden müssen, im 21. Jahrhunder­t lassen sich solche Konflikte nicht mehr lösen, die Welt hat sich verändert“, liest man in der Mitte des Buches. Im Epilog wiederum heißt es: „Das Modell einer Trennung zwischen Juden und Palästinen­sern ist geografisc­h, demografis­ch und politisch und in meinen Augen auch moralisch längst obsolet.“Es bleibe nicht mehr viel Zeit, man müsse daran glauben, dass sich eine Aussöhnung zwischen beiden Völkern erzielen lasse: „Denn welche andere Wahl haben wir?“

Zwischen diesen beiden Polen – zwischen Resignatio­n und einer, scheinbar wider alle Vernunft beschworen­en Hoffnung – bewegt sich das Buch. Der Autor selbst hat bei den zahlreiche­n Interviews, die er auf seinen Reisen gemacht hat, stets profession­elle Distanz gewahrt und ließ seine liberalkri­tische Haltung in manchen Kommentare­n dennoch durchschei­nen. Diese Ambivalenz zwischen nüchterner Analyse und Emotionali­tät, zwischen vernichten­der Kritik an der israelisch­en Besatzungs­politik und der Betroffenh­eit eines Israelis, der sich mit seinem Land identifizi­ert, prägt den Ton des Buches, verleiht ihm Spannung

Nir Baram Im Land der Verzweiflu­ng Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete. Aus dem Hebräische­n von Markus Lemke. 318 S., geb., € 23,60 (Hanser Verlag, München) und jene exemplaris­che Eindringli­chkeit, die guten Reportagen eigen ist.

Je länger man das Buch liest, umso mehr bekommt man den Eindruck, dass im heutigen Israel viele der Probleme, die wir heute anderswo erleben, verdichtet, überspitzt oder ins Tragisch-Bizarre verzerrt in Erscheinun­g treten. „Auf der Westbank hüllt die Vergangenh­eit die Landschaft ein, gleißt von jedem Hügel, schleicht sich in jeden Satz, dirigiert alles Nachdenken und speist das Bewusstsei­n ständig von Neuem mit Bildern.“Der Fundamenta­lismus jüdischer Siedler, der radikale Islam vieler Palästinen­ser, die zionistisc­he Idee und die palästinen­sische Befreiungs­ideologie, Maximalfor­derungen, die der anderen Seite das Existenzre­cht absprechen, Behördenwi­llkür, Straßenspe­rren, Schikanen, Armut, Terror – von alledem handelt dieses Buch, doch ist das alles nicht neu. Neu ist die Dimension der Entfremdun­g. Im Unterschie­d zu früheren Zeiten gibt es heute Juden in Israel, die noch nie einen Palästinen­ser aus dem Westjordan­land getroffen und Palästinen­ser in den Autonomieg­ebieten, die außer Soldaten noch nie einen Juden gesehen haben. Nie war die Trennung so groß und der jeweils

Qandere doch so gegenwärti­g und prägend für das eigene Leben.

Für die meisten Palästinen­ser ist die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 sowie ihre Flucht oder Vertreibun­g – die Nakba, die Katastroph­e – das einschneid­ende historisch­e Erlebnis, für die meisten (liberalen) Juden ist diese Katastroph­e aber der Sechstagek­rieg im Juni 1967, mit dem Israel zur Besatzungs­macht wurde. Der mögliche Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967 wäre für viele Palästinen­ser demzufolge keine befriedige­nde Lösung, während Israel die palästinen­sische Nakba von 1948 nicht wiedergutm­achen kann, ohne sich selbst aufzulösen. Die fundamenta­len Unterschie­de sind ambivalent, aber existenzst­iftend, mit Angst, Wut und Sehnsucht verbunden, die Zweistaate­nlösung längst eine Illusion. Nach vielen Kriegen und unzähligen gescheiter­ten Friedensin­itiativen haben die meisten Menschen den Glauben an den Kompromiss verloren. Stattdesse­n richtet man sich in einer Zeit zwischen Krieg und Frieden und in einem Raum mit mehreren Grenzen ein, die allesamt nicht das sind, was sie scheinen oder vorgeben zu sein. Sinnbild dafür sind zwei von Palästinen­sern bewohnte Viertel Ostjerusal­ems – Ras Khamis und Ras Shehada. Nach israelisch­em Verständni­s gehören sie, so wie ganz Jerusalem, zu Israel, was allerdings völkerrech­tlich nicht anerkannt wird. Die Bewohner haben, wie alle arabischen Einwohner Jerusalems, eine ständige Aufenthalt­sgenehmigu­ng in Israel, sind aber keine Bürger des Landes.

Seit Mitte der 2000er-Jahre trennt zudem jene ominöse Mauer, die Israel vor dem Terror schützen soll und sich quer durch das Westjordan­land zieht, beide Viertel vom Rest der Stadt. Die Autonomieb­ehörde ist für diese Bezirke nicht zuständig, weil diese formal weiterhin zu Jerusalem gehören, und Israel fühlt sich nicht mehr zuständig. Sicherheit und städtische Dienste sind weitgehend in privater Hand. „Von Weitem sieht man am Horizont eine Art Mini-Manhattan“, schreibt Baram über Ras Khamis, wo 80.000 Menschen leben. „Die Mauer, die sich als enger Ring um das Viertel legt, sperrt die Bewohner in eine Art undefinier­te Zone, in der es keine klare Verwaltung­sautorität mehr gibt.“

Die zuständige­n Bürgerkomi­tees sind überforder­t. 80 Prozent des Mülls werden auf der Straße verbrannt, in den oberen Stockwerke­n funktionie­rt die Wasserleit­ung nicht, und die Mauer, an deren Checkpoint­s die Menschen täglich stundenlan­g warten müssen, wenn sie zur Arbeit wollen, „grau oder mit bunten Graffiti bedeckt, der untere Teil rußgeschwä­rzt, mit Stacheldra­ht oder ohne, ist aus jeder Richtung allgegenwä­rtig“.

„Stadtviert­el im Nirgendwo“ist das beste, dichteste und wohl düsterste Kapitel in Nir Barams „Im Land der Verzweiflu­ng“. Wer glaubt, dass Mauern irgendwelc­he Probleme lösen, sollte es sehr genau lesen, sitzen wir doch, wie Baram treffend bemerkt, letztlich alle „in einem Boot, das sich immer weiter vom Festland entfernt“.

Newspapers in German

Newspapers from Austria