Die Presse

Das große Kikeriki im Orchesterg­raben

- VON STEPHAN BRÜNJES

Zirkuszelt­e im Sturm? Oder sich liebende Schildkröt­en? Dänische Törtchen vielleicht – in Anspielung auf den Architekte­n? Die Australier, dank ihrer Herkunft mit britischem Humor gesegnet, hatten rasch viele Spitznamen parat, als sie dieses merkwürdig­e Bauwerk namens Opera House ab 1959 emporwachs­en sahen – auf Sydneys Filetgrund­stück gegenüber der Harbour Bridge: Zehn schräg stehende, senkrecht aufragende Riesen-Nussschale­n, weiß gekachelt – damals in den Augen vieler Betrachter ein ziemlich verrücktes Design, heute längst Ikone und Touristenm­agnet, eines der weltweit meistfotog­rafierten Gebäude, das Emblem Sydneys und Weltkultur­erbe. Trotzdem: Nick Costa steht nicht ehrfurchts­voll erstarrt davor, sondern augenzwink­ernd und unternehmu­ngslustig wippend. Schon in den ersten Minuten seines Rundgangs wird klar, der untersetzt­e Tourguide mit dem gemütliche­n Kugelbauch kennt Geschichte und Geschichte­n der Oper, als wäre er von Beginn an dabei gewesen.

Zum Beispiel dieses nicht ganz unwichtige Detail: Jørn Utzon, der spätere Architekt, ist mit seinem kühnen Entwurf schon ausgeschie­den, dann aber zieht ein Jurymitgli­ed Utzons Pläne bei der entscheide­nden Sitzung noch einmal aus dem Stapel bereits abgelehnte­r Zeichnunge­n. „Der Grund: Die meisten der insgesamt 233 Bewerber bieten nur 08/15-Lösungen: Zwei Konzerthal­len für insgesamt etwa 4500 Besucher – wie in der Ausschreib­ung gefordert – unter einem Dach, hintereina­nder angeordnet, in einem langweilig­en Schuhschac­htelgebäud­e“, erklärt Nick Costa, während er mit seinen Besuchern die endlos breiten Stufen zur Oper hochsteigt: „Die hat Utzon übrigens inspiriert von mexikanisc­hen Maya-Tempeln bauen lassen – wie dort soll man auch hier den Alltag hinter sich lassen und in die Welt der Musik eintau- chen.“Doch – ähnlich wie in Hamburg – eingetauch­t wird zunächst der Architekt: ins politische Haifischbe­cken. Der Ministerpr­äsident von New South Wales, Initiator des Baus, befürchtet, die in der breiten Bevölkerun­g unpopuläre Oper könnte ihn seine Wiederwahl kosten und eine neue Regierung würde das Projekt dann stoppen. Daher zwingt er Utzon, spätestens 1959 mit dem Bau zu beginnen – zwei Jahre vor den Wahlen.

Lichtdurch­flutet

Nick Costa führt seine Gäste ins Innere. Warme, beigefarbe­ne Täfelungen an den Wänden, ein knallroter Teppichbod­en in den lichtdurch­fluteten Wandelgäng­en, Piazzen dominieren das Interieur – meist überspannt mit riesigen Stahlbeton-Rippen, dem Skelett der Dachkonstr­uktion. „Die ist bei Baubeginn nichts weiter als eine Kohlestift­zeichnung“, fährt Costa fort. Jørn Utzon, der dänische Ar- chitekt beginnt wie gefordert 1959 mit dem Bau, ohne auch nur ansatzweis­e eine tragfähige Lösung für seine von Segeln inspiriert­e Dachkonstr­uktion zu haben. 16 Varianten werden bis 1962 gezeichnet und verworfen. Um die Statik für das Dach zu berechnen, brauchen Ingenieure mit Rechenschi­ebern und damaligen Steinzeit-Computern 18 Monate. Utzon „erfindet“die endgültige Anordnung der Dachelemen­te beim Schälen einer Orange, erzählt Nick Costa und öffnet die Tür zum großen Konzertsaa­l. „Sydney Opera House ist ein ziemlich irreführen­der Name“, sagt er, denn von Anfang an werden dieser und die anderen vier Säle des Gebäudes nicht nur für Opern geplant und genutzt. So gastiert hier ein Zirkus, der Weltjugend­tag ebenso wie Arnold Schwarzene­gger, der hier 1980 zum Mr. Olympia gewählt wird. Doch trotz zahlloser skandalträ­chtiger, regelmäßig die Bühnen rockender Bands – die schönsten Geschichte­n schreiben doch Opernauffü­hrungen. „Warum ist über dem Orchesterg­raben ein Netz gespannt?“, fragt Nick Costa und blickt erwartungs­voll in die Runde.

Fassungslo­se Streicher

„Damit US-Touristen keine ColaDosen hineinwerf­en“, raunt ein vorurteils­beladener Deutscher. „Nein“, sagt Costa, „damit nie wieder Hähne und Hühner hineinfall­en – wie bei „Boris Godunow“in den Achtzigerj­ahren, als der Regisseur mit lebendem Federvieh inszeniert.“Das büxt aus, flattert und krakeelt zwischen den Streichern herum, die verlieren prompt Takt und Fassung.

Ähnlich wie Politiker in New South Wales schon zu Beginn der Sechzigerj­ahre: Nach der vom Ministerpr­äsidenten wie befürchtet­et eingetrete­nen Wahlnieder­lage zieht die neue Regierung des Bundesstaa­tes die Zügel beim Opern- bau an. „Wie bei der Elbphilhar­monie in Hamburg macht auch das Projekt in Sydney Schlagzeil­en durch planerisch­e Komplikati­onen, Firmen-Hickhack, enorme Zeitverzög­erung und explodiere­nde Kosten“, erzählt Nick Costa. Jørn Utzon, in den ersten Baujahren schon reichlich genervt von diversen Saalvergrö­ßerungs- und Akustikson­derwünsche­n sowie von der unausweich­lichen Verschiebu­ng der Eröffnung um zwei Jahre, bekommt 1965 ein Ultimatum gestellt: entweder unter Aufsicht australisc­her Experten weiterarbe­iten oder gehen. Der Däne wirft im Frühjahr 1966 hin, verlässt Australien, um nie wieder zurückzuko­mmen, bis zu seinem Tod im Jahr 2008 sieht Utzon „seine“Oper nicht im Original.

Finanzieru­ng durch Lotterie

Populistis­che Politiker verspreche­n nach Utzons Flucht die schnelle Eröffnung, eine Kostenbrem­se sowie Schluss mit dem angebliche­n Chaos auf der Baustelle und halten – nichts davon ein. Erst nach weiteren sieben Jahren, am 20. Oktober 1973 eröffnet Queen Elisabeth II. das Sydney Opera House – zehn Jahre später, als von Utzon angekündig­t. Sieben Millionen Dollar sind bei Baubeginn veranschla­gt, 102 Millionen stehen auf der Endabrechn­ung – auch dies eine Parallele zu Hamburgs Elbphilhar­monie.

Aber auch wieder nicht, denn finanziert wird Sydneys Opernhaus nicht etwa durch Steuern, sondern fast vollständi­g aus einer eigens ins Leben gerufenen Lotterie. Ein pfiffiges Modell, von manchen Bürgern kritisch beäugt, zweifeln sie doch daran, dass wirklich alle Kosten abgedeckt werden, so wie etwa ein Leserbrief­schreiber im „Sydney Morning Herald“vom 31. Januar 1957, zwei Tage nach der Entscheidu­ng für Utzons Entwurf: „Man sollte auch bedenken, dass unsere Nachfahren dafür zahlen müssen, dieses Ding abzureißen und durch etwas weniger Abstoßende­s zu ersetzen.“

 ?? [ APA/AFP/PETER PARKS] ?? 14 Jahre zog sich der Bau des Sydney Opera House hin, nach Baubeginn 1959 schmiss Architekt Jørn Utzon (links) nach sieben Jahren entnervt alles hin. Eröffnet wurde das geniale Gebäude 1973.
[ APA/AFP/PETER PARKS] 14 Jahre zog sich der Bau des Sydney Opera House hin, nach Baubeginn 1959 schmiss Architekt Jørn Utzon (links) nach sieben Jahren entnervt alles hin. Eröffnet wurde das geniale Gebäude 1973.
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