Das große Kikeriki im Orchestergraben
Zirkuszelte im Sturm? Oder sich liebende Schildkröten? Dänische Törtchen vielleicht – in Anspielung auf den Architekten? Die Australier, dank ihrer Herkunft mit britischem Humor gesegnet, hatten rasch viele Spitznamen parat, als sie dieses merkwürdige Bauwerk namens Opera House ab 1959 emporwachsen sahen – auf Sydneys Filetgrundstück gegenüber der Harbour Bridge: Zehn schräg stehende, senkrecht aufragende Riesen-Nussschalen, weiß gekachelt – damals in den Augen vieler Betrachter ein ziemlich verrücktes Design, heute längst Ikone und Touristenmagnet, eines der weltweit meistfotografierten Gebäude, das Emblem Sydneys und Weltkulturerbe. Trotzdem: Nick Costa steht nicht ehrfurchtsvoll erstarrt davor, sondern augenzwinkernd und unternehmungslustig wippend. Schon in den ersten Minuten seines Rundgangs wird klar, der untersetzte Tourguide mit dem gemütlichen Kugelbauch kennt Geschichte und Geschichten der Oper, als wäre er von Beginn an dabei gewesen.
Zum Beispiel dieses nicht ganz unwichtige Detail: Jørn Utzon, der spätere Architekt, ist mit seinem kühnen Entwurf schon ausgeschieden, dann aber zieht ein Jurymitglied Utzons Pläne bei der entscheidenden Sitzung noch einmal aus dem Stapel bereits abgelehnter Zeichnungen. „Der Grund: Die meisten der insgesamt 233 Bewerber bieten nur 08/15-Lösungen: Zwei Konzerthallen für insgesamt etwa 4500 Besucher – wie in der Ausschreibung gefordert – unter einem Dach, hintereinander angeordnet, in einem langweiligen Schuhschachtelgebäude“, erklärt Nick Costa, während er mit seinen Besuchern die endlos breiten Stufen zur Oper hochsteigt: „Die hat Utzon übrigens inspiriert von mexikanischen Maya-Tempeln bauen lassen – wie dort soll man auch hier den Alltag hinter sich lassen und in die Welt der Musik eintau- chen.“Doch – ähnlich wie in Hamburg – eingetaucht wird zunächst der Architekt: ins politische Haifischbecken. Der Ministerpräsident von New South Wales, Initiator des Baus, befürchtet, die in der breiten Bevölkerung unpopuläre Oper könnte ihn seine Wiederwahl kosten und eine neue Regierung würde das Projekt dann stoppen. Daher zwingt er Utzon, spätestens 1959 mit dem Bau zu beginnen – zwei Jahre vor den Wahlen.
Lichtdurchflutet
Nick Costa führt seine Gäste ins Innere. Warme, beigefarbene Täfelungen an den Wänden, ein knallroter Teppichboden in den lichtdurchfluteten Wandelgängen, Piazzen dominieren das Interieur – meist überspannt mit riesigen Stahlbeton-Rippen, dem Skelett der Dachkonstruktion. „Die ist bei Baubeginn nichts weiter als eine Kohlestiftzeichnung“, fährt Costa fort. Jørn Utzon, der dänische Ar- chitekt beginnt wie gefordert 1959 mit dem Bau, ohne auch nur ansatzweise eine tragfähige Lösung für seine von Segeln inspirierte Dachkonstruktion zu haben. 16 Varianten werden bis 1962 gezeichnet und verworfen. Um die Statik für das Dach zu berechnen, brauchen Ingenieure mit Rechenschiebern und damaligen Steinzeit-Computern 18 Monate. Utzon „erfindet“die endgültige Anordnung der Dachelemente beim Schälen einer Orange, erzählt Nick Costa und öffnet die Tür zum großen Konzertsaal. „Sydney Opera House ist ein ziemlich irreführender Name“, sagt er, denn von Anfang an werden dieser und die anderen vier Säle des Gebäudes nicht nur für Opern geplant und genutzt. So gastiert hier ein Zirkus, der Weltjugendtag ebenso wie Arnold Schwarzenegger, der hier 1980 zum Mr. Olympia gewählt wird. Doch trotz zahlloser skandalträchtiger, regelmäßig die Bühnen rockender Bands – die schönsten Geschichten schreiben doch Opernaufführungen. „Warum ist über dem Orchestergraben ein Netz gespannt?“, fragt Nick Costa und blickt erwartungsvoll in die Runde.
Fassungslose Streicher
„Damit US-Touristen keine ColaDosen hineinwerfen“, raunt ein vorurteilsbeladener Deutscher. „Nein“, sagt Costa, „damit nie wieder Hähne und Hühner hineinfallen – wie bei „Boris Godunow“in den Achtzigerjahren, als der Regisseur mit lebendem Federvieh inszeniert.“Das büxt aus, flattert und krakeelt zwischen den Streichern herum, die verlieren prompt Takt und Fassung.
Ähnlich wie Politiker in New South Wales schon zu Beginn der Sechzigerjahre: Nach der vom Ministerpräsidenten wie befürchtetet eingetretenen Wahlniederlage zieht die neue Regierung des Bundesstaates die Zügel beim Opern- bau an. „Wie bei der Elbphilharmonie in Hamburg macht auch das Projekt in Sydney Schlagzeilen durch planerische Komplikationen, Firmen-Hickhack, enorme Zeitverzögerung und explodierende Kosten“, erzählt Nick Costa. Jørn Utzon, in den ersten Baujahren schon reichlich genervt von diversen Saalvergrößerungs- und Akustiksonderwünschen sowie von der unausweichlichen Verschiebung der Eröffnung um zwei Jahre, bekommt 1965 ein Ultimatum gestellt: entweder unter Aufsicht australischer Experten weiterarbeiten oder gehen. Der Däne wirft im Frühjahr 1966 hin, verlässt Australien, um nie wieder zurückzukommen, bis zu seinem Tod im Jahr 2008 sieht Utzon „seine“Oper nicht im Original.
Finanzierung durch Lotterie
Populistische Politiker versprechen nach Utzons Flucht die schnelle Eröffnung, eine Kostenbremse sowie Schluss mit dem angeblichen Chaos auf der Baustelle und halten – nichts davon ein. Erst nach weiteren sieben Jahren, am 20. Oktober 1973 eröffnet Queen Elisabeth II. das Sydney Opera House – zehn Jahre später, als von Utzon angekündigt. Sieben Millionen Dollar sind bei Baubeginn veranschlagt, 102 Millionen stehen auf der Endabrechnung – auch dies eine Parallele zu Hamburgs Elbphilharmonie.
Aber auch wieder nicht, denn finanziert wird Sydneys Opernhaus nicht etwa durch Steuern, sondern fast vollständig aus einer eigens ins Leben gerufenen Lotterie. Ein pfiffiges Modell, von manchen Bürgern kritisch beäugt, zweifeln sie doch daran, dass wirklich alle Kosten abgedeckt werden, so wie etwa ein Leserbriefschreiber im „Sydney Morning Herald“vom 31. Januar 1957, zwei Tage nach der Entscheidung für Utzons Entwurf: „Man sollte auch bedenken, dass unsere Nachfahren dafür zahlen müssen, dieses Ding abzureißen und durch etwas weniger Abstoßendes zu ersetzen.“