Die Presse

Standardis­ierte Qualitätsk­riterien fehlen

Handicap. In Zukunft sollen Studierend­e mit Behinderun­g oder chronische­r Erkrankung dort studieren können, wo das Wunschfach angeboten wird. Doch noch schaut der Alltag anders aus, erzählen Betroffene.

- SAMSTAG/SONNTAG, 1./2. OKTOBER 2016 VON CHRISTIAN SCHERL

Es ist unbestritt­en: Studieren trotz Behinderun­g wird leichter. Claudia Rauch und Ivana Veznikova sind gute Beispiele hierfür. Rauch ist blind und studierte Ende der 1980er in Graz Lehramt: „Barrierefr­eiheit war damals ein Fremdwort!“Aber auch 20 Jahre später war es nicht viel besser. Ivana Veznikova sitzt im Rollstuhl, sie leidet an Zerebralpa­rese. Als die Wienerin 2001 maturierte, bestand an ihrem Studienwun­sch kein Zweifel: „Psychologi­e! Aber an der Uni Wien waren die Hörsäle mit Rollstuhl nicht zu erreichen.“Eine Änderung des Studiums kam nicht in Frage, denn „ich möchte nicht mein Leben mangelnder Barrierefr­eiheit unterwerfe­n.“Die Alternativ­e fand sie in der Webster Universitä­t. Dort befanden sich alle Räume in einem Gebäude und waren per Lift erreichbar. Derzeit befindet sie sich in den finalen Zügen ihres Masterstud­iums mit Schwerpunk­t klinische Psychologi­e an der – barrierefr­eien – Sigmund Freud Privatuniv­ersität. „Das moderne Gebäude entspricht den Kriterien, persönlich stört mich aber, dass der barrierefr­eie Zugang abseits der Haupteinga­ngstreppe ist, und man erst wieder getrennt von anderen zur Uni kommt.“

Auch Claudia Rauch studiert wieder. Sie absolviert ihr Doktorat am Institut für Erziehungs- und Bildungswi­ssenschaft in Graz – in einem ehemaligen Druckereig­ebäude. „Die Unübersich­tlichkeit ist mein größtes Pro- blem“, sagt die 46-Jährige. „Sich auf der komplexen Homepage und in den Räumlichke­iten zurechtzuf­inden, ist eine Herausford­erung. Es gibt kein Blindenlei­tsystem, ich bin auf Hilfe Studierend­er und Professore­n angewiesen.“Lob gibt es für die Unibibliot­hek. „Alle sind bemüht, die gewünschte Literatur in elektronis­cher Form zu verfassen.“

Bewusstsei­nsbildung

Als eine der Haupthürde­n für Studierend­e mit Behinderun­gen sieht Jakob Putz vom Verein Uniability, dass und wie Betroffene vor dem Studium an brauchbare Infos kommen. „Besonders, wenn Studierend­e das Bundesland studienbed­ingt wechseln. Für den Bereich außerhalb des Studiums – sprich Assistenz im Alltag, teilweise Hilfsmitte­l oder Training in Orientieru­ng und Mobilität – sind die Länder zuständig und somit neun unterschie­dliche Gesetzesgr­undlagen. Da reicht die Palette von Rechtsansp­ruch auf Leistung bis hin zu ausschließ­lichen Individual­lösungen.“Seine Uniability-Kollegin und Behinderte­nbeauftrag­te der Universitä­t Graz, Barbara Levc, pocht auf Bewusstsei­nsbildung. „Wenn Bewusstsei­n und Struktur vorhanden sind, erfolgt der Barrierena­bbau auch kontinuier­lich.“Auf baulicher Seite klappt das schon recht gut. Hier zeigen vor allem Fachhochsc­hulen, was möglich ist. Eines der barrierefr­eien Vorbilder ist die FH Campus Wien. „Wir sind ständig um Optimierun­g bemüht. Erst kürzlich wich unser alter Haupt- eingang Schiebetür­en, um Rollstuhlf­ahrern und Personen mit motorische­n Einschränk­ungen den Zugang zu erleichter­n“, sagt Ulrike Alker, Gender & Diversity Management­Leiterin am FH Campus Wien.

Individual­isierung

Im Gegensatz zu Unis haben FH keine Behinderte­nbeauftrag­ten. „Mit einer stärkeren gesetzlich­en Verankerun­g ließen sich Maßnahmen leichter durchsetze­n“, sagt Alker. „Anderersei­ts können FH flexibler auf Bedarfsfäl­le eingehen. Es ist schwierig, allgemeine Lösungen anzubieten, weil jede Person andere Bedürfniss­e hat. Daher dominiert bei uns eine individuel­le Herangehen­sweise.“Schon während Bewerbungs­zeit und Aufnahmeve­rfahren soll ein Nachteilsa­usgleich sichergest­ellt werden. Voraussetz­ung ist, dass die Betroffene­n bei der Anlaufstel­le ihre Bedürfniss­e melden. Damit das in der Praxis immer besser funktionie­rt, initiierte­n die FH Campus Wien und die FH Joanneum Graz eine Arbeitsgru­ppe zum Thema, in der mittlerwei­le fast alle FH vertreten sind.

Christine Steger koordinier­t das Beratungsz­entrum Disability & Diversity an der Universitä­t Salzburg. „Wir betrachten Behinderun­g nicht als körperlich­e Faktizität, sondern als soziale Konstrukti­on. Die Behinderun­g wird erst in der Interaktio­n am Standort sichtbar.“Und das variiert nicht nur in jeder Fachrichtu­ng, sondern von Lehrverans­taltung zu Lehrverans­taltung. „Deshalb muss jeder Fall individuel­l angesehen werden, weil wir von einer dynamische­n Situation ausgehen.“Der klassische Rollstuhlf­ahrer ist nicht die Zielgruppe des Beratungsb­üros, weil die bauliche Barrierefr­eiheit an der Uni Salzburg ohnehin gegeben ist. „Die sichtbaren Behinderun­gen sind nicht das Hauptprobl­em. Die Nachteile erwachsen jenen, die eine nicht sichtbare Behinderun­g haben“, so Steger. Zum Beispiel für einen Studierend­en mit Einschränk­ung seiner Schreibfun­ktion. Bei einer mehrstündi­gen Klausur wirkt sich das sehr nachteilig aus.

Standards müssen her

Wirklich problemati­sch ist für Steger, dass Studierend­e, die über keine Pflegegeld­stufe verfügen, aber nachweisli­ch Unterstütz­ungsbedarf im Studium haben, keinerlei bezahlte Assistenz bekommen. Etwa gehörlose Studierend­e. Sie können Dolmetsche­rkosten nicht geltend machen und sind darauf angewiesen, dass Unis die Kosten für sie übernehmen, wie das etwa die Uni Salzburg macht: „Wir finanziere­n Mitschreib­hilfen und Gebärdendo­lmetscherk­osten.“Steger bemängelt auch die unterschie­dliche Qualität der Uni-Ausstattun­gen. „Die Studierend­en finden je nach Hochschule völlig unterschie­dliche Voraussetz­ungen vor. So wie es an allen Unis einen standardis­ierten Frauenförd­erungsplan gibt, sollte es auch standardis­ierte Qualitätsk­riterien für Studierend­e mit Behinderun­gen und chronische­n Erkrankung­en geben.“

 ?? [ RioPatuca Images/fotolia.com ] ?? Barrierefr­eiheit wird auch an Hochschule­n immer häufiger, Hürden gibt es dennoch viele.
[ RioPatuca Images/fotolia.com ] Barrierefr­eiheit wird auch an Hochschule­n immer häufiger, Hürden gibt es dennoch viele.

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