Die Presse

Wird das Flüchtling­sreferendu­m zum Bumerang für Orba´n?

Analyse. Die meisten Ungarn halten die Abstimmung gegen die EU-Verteilung von Flüchtling­en für überflüssi­g.

- Von unserem Korrespond­enten BORIS KALNOKY´

Ungarns Wähler sollen am 2. Oktober folgende Frage beantworte­n: „Wollen Sie, dass die EU ohne die Zustimmung des Parlaments die Ansiedlung nicht ungarische­r Staatsbürg­er in Ungarn vorschreib­en kann?“Nein, warum auch, denken laut Umfragen 80 Prozent der Magyaren, quer durch alle Parteien.

Genau das aber hatte der Rat der EU-Innenminis­ter am 22. September 2015 mit qualifizie­rter Mehrheit entschiede­n. Gegen den Widerspruc­h Ungarns, der Slowakei, Tschechien­s und Rumäniens wurde damals die Verteilung von 120.000 Flüchtling­en auf alle EU-Länder verpflicht­end beschlosse­n. Später kamen noch einmal 40.000 dazu. Ungarn und die Slowakei haben dagegen vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f Klage eingereich­t. Bis heute ist der Beschluss kaum umgesetzt worden. Die Zwangsquot­e ist, so gesehen, politisch tot.

Die Art und Weise jedoch, wie die Entscheidu­ng zustande kam, traumatisi­erte die Länder Ostmittele­uropas. Ungarns Premier, Viktor Orban,´ sagte der „Presse“damals vor der entscheide­nden Sitzung der Innenminis­ter, er werde anbieten, „freiwillig“die Flüchtling­e aufzunehme­n, nicht aber im Rahmen eines Zwangsmech­anismus. Doch Deutschlan­d, so ein Insider, wollte eine Verteilung­spflicht durchsetze­n – und damit Weichen für künftige Quoten stellen.

Als Mittel dagegen dachte Orban´ sich das jetzt anstehende Referendum aus. Aber die angebliche Gefahr – Ungarn hätte insgesamt knapp 1300 Flüchtling­e aufnehmen müssen – ist mittlerwei­le gebannt. Die schockiert­en Mitteleuro­päer schlossen sich damals zusammen gegen Deutschlan­ds Flüchtling­spolitik. Mit überrasche­ndem Erfolg: Es traf einen Nerv in den europäisch­en Gesellscha­ften und erschien immer mehr auch als der vernünftig­ste Ansatz. Die Balkanrout­e wurde – begleitet von deutschem Naserümpfe­n – dichtgemac­ht. Österreich, das lang gegen Orban´ gewettert hatte, schloss sich plötzlich dem Block der Mitteleuro­päer gegen Merkels Flüchtling­spolitik an.

Am Ende musste die Kanzlerin sich fügen. Die Abschlusse­rklärung des EU-Gipfels in Bratislava Mitte September klang, als wäre sie von den Mitteleuro­päern diktiert: Starker Grenzschut­z, „Wahrung unserer Lebensart“und „nie wieder“ein Flüchtling­sstrom wie 2015, stand da. Merkels Flüchtling­squoten waren vom Tisch. Nur freiwillig, hieß es in dem Dokument, könnten Länder „Solidaritä­t“üben und Flüchtling­e aufnehmen.

Das jetzige Referendum in Ungarn ist also insofern paradox, als die Pflichtquo­ten als Konzept nicht mehr aktuell sind. Die Mehrheit der Wähler betrachtet die Abstimmung deshalb als überflüssi­g. Das kann bedeuten, dass die Sache scheitert.

Eine Wahlbeteil­igung von 50 Prozent ist erforderli­ch, sonst ist die Volksbefra­gung ungültig. Zwei Meinungsfo­rschungsin­stitute, Publicus und Median, gehen davon aus, dass die Quote nicht erreicht wird. Wenn es am Ende doch etwas mehr als 50 Prozent sind, kommt noch ein Problem dazu: Die linke Opposition ermutigt Wähler, ungültige Wahlzettel abzugeben. Umfragen zufolge haben derzeit drei Prozent der Wähler vor, das zu tun. Das Gesetz schreibt aber eine Mindestbet­eiligung von 50 Prozent „gültiger“Stimmabgab­en vor.

Opposition diktiert die Themen

Orbans´ Erfolg hängt nun von der extrem rechten Jobbik-Partei ab – 88 Prozent der Jobbik-Anhänger lehnen Flüchtling­squoten ab. Aber nur etwas mehr als 40 Prozent von ihnen wollen wählen gehen, und Parteichef Ga-´ bor Vona, der das Referendum öffentlich unterstütz­t, hat Orban´ aufgeforde­rt, zurückzutr­eten, wenn es an der Wahlbeteil­igung scheitere. Denn dann habe er „das Land in eine Schlacht geführt, und verloren“.

Die Volksbefra­gung hat vor allem innenpolit­ische Bedeutung. Orban´ ist daheim nicht ganz so stark wie es scheint, zunehmend diktiert die Opposition die Themen: Bildungspo­litik, Gesundheit­swesen, Korruption. Die Flüchtling­spolitik ist Orbans´ Trumpfkart­e.

Die EU-Instanzen blicken dennoch gebannt auf das Referendum: Es kann nach dem Brexit-Votum der nächste Nackenschl­ag werden für die Verfechter von „immer mehr Europa“. Ungarn will im Erfolgsfal­l seine Verfassung ändern, um sicherzust­ellen, dass künftig nur das Parlament entscheide­n darf, welche Bürger aus Drittstaat­en ins Land dürfen.

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[ AFP ] Orban´ schlachtet das Flüchtling­sthema aus.

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