Die Presse

Und gelacht habe ich, wo ich auch hätte weinen können

Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Über das Tragische und das Komische: zwei Blickwinke­l auf ein und dieselbe Sache.

- Von Michael Köhlmeier

Zwei jüdische Attentäter warten an einer Straßeneck­e auf Adolf Hitler, sie wollen ihn mit einer Bombe in die Luft sprengen. Der Führer besucht ihre Stadt, die Zeremonie ist von der Partei bis ins Kleinste geplant. Auf die Minute genau sollte der Mercedes, in dem er, stehend, den Arm ausgestrec­kt, das Volk grüßt, jene Straßeneck­e passieren. Die Attentäter blicken nervös auf die Uhr. Bereits eine Minute über dem Termin! Eine weitere Minute darüber! Gar eine dritte Minute! Sagt der eine: „Wo er nur bleibt?“Sagt der andere: „Es wird ihm doch nichts passiert sein.“

Über den Witz lacht auch, wer von der Geschichte des Judentums wenig Ahnung hat und glaubt, das Schicksal dieses Volkes lasse sich im Wesentlich­en auf Verfolgung und Pogrom reduzieren. Dass hier das Komische des Tragischen bedarf, um überhaupt in Erscheinun­g zu treten, ist offenkundi­g. Und wer ohnehin immer schon der Meinung war, das Tragische und das Komische seien nur zwei verschiede­ne Blickwinke­l auf ein und dieselbe Sache, findet in diesem Witz eine schwergewi­chtige Bestätigun­g.

Der französisc­he Philosoph Henri Bergson vertritt in seinem berühmten Essay über das Lachen („Le rire“) die These, alles Lachen sei im Kern ein Auslachen und als solches eine Form gesellscha­ftlicher Sanktion gegenüber einem Fehlverhal­ten, das zwar zu leicht ist, um von einem Gericht oder einer gerichtsäh­nlichen Institutio­n oder Tradition geahndet, aber schwer genug wiegt, um nicht übersehen zu werden. Wer auf der Bananensch­ale ausrutscht, wird ausgelacht, weil er nicht achtgegebe­n hat, es aber für das menschlich­e Wohlergehe­n besser ist, achtzugebe­n. Bergson erwähnt das reine, unschuldig­e Kinderlach­en nicht; entweder, weil er nicht daran glaubt, oder aber, weil er nur über Erwachsene und zu Erwachsene­n spricht.

Wer aber wird in unserem Witz wofür bestraft? Und weiter: Angesichts oder fast angesichts des Verursache­rs der größten Verbrechen der Menschheit – was an dem zu ahndenden Fehlverhal­ten ist so leicht, dass es nicht vor einem Gericht verhandelt werden müsste, zum Beispiel in einem Prozess wie dem Nürnberger gegen die deutschen Kriegsverb­recher?

Wir lachen, weil sich ein potenziell­er Mörder Sorgen macht um das Wohlergehe­n seines potenziell­en Opfers, eines der größten Massenmörd­er der Geschichte. Aber was bedeutet das? Welcher Archetypus schwingt in uns mit, wenn wir lachen, wo uns doch zum Weinen zumute sein sollte? Was ist daran komisch? Was ist daran tragisch?

Nur damit kein Missverstä­ndnis entsteht: Nicht, was am Nationalso­zialismus tragisch ist, wird gefragt, diese Frage erübrigt sich. Nichts am Nationalso­zialismus ist tragisch, wenn wir die klassische Definition des Aristotele­s anwenden, der auch Lessing folgt, nach der die Tragödie das Aufeinande­rprallen wenigstens zweier berechtigt­er, jedoch antagonist­ischer Interessen ist: Der Konflikt in einer Tragödie besteht ja gerade darin, dass beide Seiten recht haben, auch moralisch recht haben. Und auch nichts am Nationalso­zialismus ist symbolisch, in nichts weist er über sich hinaus, es gibt an ihm nichts zu deuten, er ist frei von allem Metaphysis­chen. Worin wahrschein­lich der Grund liegt, warum er sich mit so viel Pomp inszeniert­e. Er ist das monströse Als-ob. – Die Frage lautet vielmehr: Was ist nicht nur komisch, sondern auch tragisch daran, dass ausgerechn­et derjenige, der den Verursache­r des Bösen mit dem Tod bestrafen will, sich um dessen Wohlergehe­n Gedanken macht?

Wir lachen unter und leiden über

unserem Niveau. Lachen erniedrigt uns oft, Leid aber erhöht uns immer. Warum eigentlich? Und geht es nur uns so, uns Abendlände­rn? Wie wird das Lachen in anderen Kulturen gewichtet? Wie das Leid? Kultur heißt: eine Betrachtun­gsweise schaffen. Komödie sei Tragödie plus Zeit, sagt Woody Allen. Mit genügend zeitlichem Abstand können wir über al- les lachen, sogar über das Leid, vielleicht sogar vor allem über das Leid. Wenn uns die Legende berichtet, der heilige Laurentius habe, als ihn die Feinde des Christentu­ms auf den glühenden Grill gelegt haben, nach ein paar Minuten gesagt, man könne ihn umdrehen, die eine Seite sei durchgebra­ten, dann lachen wir; und während wir lachen, sind wir ohne Erbarmen, ohne Mitleid. – Dürfen wir dennoch mit gutem Gewissen das Lachen als etwas Gutes nicht nur akzeptiere­n, sondern sogar begrüßen? Oder sollte man das Lachen, wie es manche religiöse Fanatiker fordern, verbieten?

Viele Symbole hat unser Abendland aufgestell­t wie Standarten, um uns die Analyse der Verhältnis­se dort zu ersparen, wo uns die Analyse in einen hermeneuti­schen Zirkel führt, in dem wir uns drehen wie ein gefopptes Nagetier. Das Symbol über allen abendländi­schen Symbolen aber ist das Kreuz. Durch die beiden Gitterstäb­e des Kreuzes betrachten wir die Welt bis heute; ob uns das bewusst ist oder nicht; ob wir glauben, dass uns das Christentu­m nichts angeht, oder ob uns das Bildnis des Schmerzens­mannes berührt, wie es die Menschen über 2000 Jahre berührt hat.

Der Gott des Abendlande­s

ist ein Gefolterte­r, ein Leidender; daraus ergibt sich zwingend, dass Leid uns erhöht. Kultur ist eine Betrachtun­gsweise der Welt – wir betrachten seit 2000 Jahren die Welt unter dem Aspekt des Leidens. Schopenhau­er war der Meinung, Erkenntnis setze die Fähigkeit mitzuleide­n voraus. Ohne Mitleid sind wir in uns versponnen, sind wir tatsächlic­h Monaden, sind wir nicht überlebens­fähig, weil wir Mängelwese­n in jeder Stunde eines auf das andere angewiesen sind. Mein Landsmann, der von mir hochgeschä­tzte Freund und Psychiater Reinhard Haller, sagt: „Das Böse beginnt dann, wenn der Mensch sich nicht in andere hineinfühl­t.“

Aristotele­s, der Menschheit­soptimist, schreibt am Beginn seiner „die Nikomachis­che“genannten Ethik: „Jede Handlung scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt.“Ich verstehe das so, dass jeder Mensch, zumindest im Zustand

Komödie sei Tragödie plus Zeit, sagt Woody Allen. Mit zeitlichem Abstand können wir über alles lachen, vielleicht vor allem über das Leid.

als Handelnder, meint, das Gute zu tun und zu wollen. Hier nistet sich Ideologie ein. Es wurde für Jesus getötet, für die Weltrevolu­tion, für die Reinheit der Rasse, es wird für Allah getötet. Ich halte es für möglich, dass auch jener junge Mann, der vor zwei Monaten in einer französisc­hen Kleinstadt einem 80-jährigen Priester an dessen Altar die Kehle durchschni­tt, glaubte, er tue etwas Gutes.

Doch dann hören wir Johnny Cash singen: „I shot a man in Reno, just to watch him die . . .“Nur um ihn sterben zu sehen. Und wir geben Johnny Cash, der gewiss kein Optimist war, recht vor Aristotele­s.

Dieses Böse ist uns unerklärli­ch. Weil es kein Motiv und Ziel zu haben scheint. Weil es interessel­os scheint. Weil es nichts für

sich haben will: der Bauer, zu dem der Engel kommt und sagt, du darfst dir wünschen, was du willst, und dann wünscht er sich nicht einen neuen Traktor oder mehr Land oder mehr Vieh, sondern dass die Ziege des Nachbarn verreckt. Auch wenn es immer schon unter uns war, dieses Böse – das absolut Böse, wie es Kant nennt –, hat es merkwürdig­erweise erst sehr spät in unserer Literatur Einzug gehalten. Der klassische bürgerlich­e Bösewicht, Mephisto, wirkt neben Adolf Eichmann wie ein Feuilleton­ist, ein blendender Feuilleton­ist zugegeben, aber ein Feuilleton­ist.

Eichmanns Charakter entspricht in der Literatur Mister Verloc, dem Protagonis­ten in Joseph Conrads „Der Geheimagen­t“(dass auch er mit Vornamen Adolf heißt, ist ein anachronis­tischer Witz). Ich lasse mich gern korrigiere­n, aber ich glaube, in diesem außerorden­tlichen – auch außerorden­tlich spannenden – Roman begegnen wir dem Bösen zum ersten Mal in Form von Dumpfheit, Gleichgült­igkeit, geistloser Bereitscha­ft zum Gehorsam, in Form der absoluten Mitleidlos­igkeit – nämlich dem banalen Bösen, das schrecklic­her ist als die schrecklic­hsten Höllengest­alten eines Hieronymus Bosch oder eines Dante Alighieri, nämlich weil es uns so schrecklic­h ähnlich sieht. Der Begriff stammt von Hannah Arendt, das wissen wir alle, sie hat ihn geprägt, als sie vom Prozess gegen Eichmann in Jerusalem berichtete. Avner Werner Less, der israelisch­e Polizeioff­izier, der 1960 und 1961 die Verhöre Eichmanns leitete, erzählt, einmal habe ihn Eichmann nach seinen Verwandten gefragt, und als er antwortete, ein Großteil sei von seiner, Eichmanns, Abteilung in die Todeslager transporti­ert worden, habe Eichmann unter dem Tisch die Hacken zusammenge­schlagen und „Herzliches Beileid“gesagt, und er habe es nicht zynisch gemeint.

Mephisto ist der überkluge Zyniker; Mister Verloc hingegen stellt den Zyniker in seinem Naturzusta­nd dar, bevor ihm das Bewusstsei­n die mephistoph­elischen Geistesbli­tze liefert – Verloc verkörpert das Böse aus Langeweile, das nur ein Mittel gegen diese Langeweile zu kennen glaubt, nämlich die Vernichtun­g, die Destruktio­n.

Dieses Böse zu lenken ist, so hat sich herausgest­ellt, einfach. Das erste Lockmittel ist die Sprache. Sprache ist immer vieldeutig, und die deutsche Sprache ist es in besonderem Maße. Denken wir nur daran, wie viele eklatant unterschie­dliche Bedeutunge­n ich einem Verb geben kann, indem ich ihm verschiede­ne Präfixe voranstell­e. Exempel – richten: berichten, verrich

ten, zurichten, anrichten, einrichten und so weiter. Dann: nichts leichter, als mit der Wahrheit zu lügen, aber auch mit einer Lüge die Wahrheit zu sagen; jeder kann Beispiele dafür nennen, dass eine Lüge so lange vorgetrage­n wurde, bis sie fast jeder für eine Wahrheit hielt, oder dass eine Wahrheit durch ständiges Wiederhole­n einem so auf die Nerven ging, dass man sie nicht mehr glauben wollte. Wie man mit rhetorisch­en Mitteln den Sinn eines Wortes in sein Gegenteil verkehren kann, dafür ist die Rede des Antonius in Shakespear­es „Julius Cäsar“das beste Beispiel; der Begriff „ehrenwerte­r Mann“ist für alle Zeiten diskrediti­ert.

Das Wort „Gutmensch“sollte ursprüngli­ch auf satirische Weise jemanden bezeichnen, der so tut, als ob er gut wäre, und dieses Gutsein wie einen Heiligensc­hein über sich trägt, in Wahrheit aber nicht gut, allenfalls dumm ist. Inzwischen ist es ein Schimpfwor­t, das ganz gezielt und nur noch gegen jene gerichtet wird, die tatsächlic­h Gutes tun.

Aber kehren wir zurück zu unserem Witz: Wer die Thora liest und sich Gedanken über die Geschichte von Abraham und der Opferung seines Sohnes Isaak macht, der kommt der Bedeutung unseres Witzes vielleicht näher. An keiner anderen Stelle des Tanach wird die Thematik von Mord und Mitleid auf so schonungsl­ose Weise zur Diskussion gestellt. Und diese schonungsl­ose Weise greift der Witz auf, in Form einer Verdrehung freilich.

Lassen Sie mich ein wenig ausholen: Gott stellt Abraham auf die Probe, indem er ihm befiehlt, Isaak, den einzigen, über alles geliebten Sohn, auf den der Patriarch und seine Frau Sara so lange gewartet haben, auf einen Berg zu führen und ihn dort zu töten und ihm, seinem Gott, als ein Brandopfer darzubring­en. Das heißt, der Vater soll dem Sohn die Kehle durchschne­iden und anschießen­d die Leiche verbrennen.

Was tut Abraham? Er reagiert mit nahezu mechanisch­er Unterordnu­ng. Er lehnt sich nicht auf. Er fragt nicht einmal nach. Er weint nicht. Er hat keine schlaflose Nacht. Jedenfalls wird nicht davon berichtet.

Es heißt im Buch: „Er selbst nahm das Feuer und das Messer in die Hand und führte seinen Sohn auf den Berg.“

Nach einer Weile sagt Isaak, der noch ein Knabe ist, ein Kind: „Vater, hier ist Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das Brandopfer?“Und Abraham lügt. Er lügt, indem er die Wahrheit sagt. Er sagt: „Gott wird sich das Opferlamm aussuchen, mein Sohn.“

Das ist einerseits die Wahrheit, anderersei­ts ist es eine Lüge. Die Lüge liegt im Tempus. Gott hat sich das Opferlamm nämlich bereits ausgesucht. Der Text ist von unübertref­flicher Schlichthe­it und Kälte.

Es heißt weiter: „Als sie an den Ort kamen, den ihm Gott genannt hatte, baute Abraham den Altar, schichtete das Holz auf, fesselte seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz.“

Der Mord an seinem Sohn erscheint Abraham als eine Notwendigk­eit, der zu widersprec­hen ebenso sinnlos wäre, wie ein Naturgeset­z zu leugnen. Gott schafft die Gesetze, alle Gesetze. Mitleid wäre unbotmäßig und dumm. Gott also ist der Täter. Schuldgefü­hle vonseiten des Menschen wären unbotmäßig und dumm.

Doch wie geht es weiter? Abraham streckt seine Hand aus und nimmt das Messer, um seinen Sohn zu schlachten, und in ebendiesem Augenblick ruft der Engel des Herrn vom Himmel herab, er solle dem Kind nichts zuleide tun. Gott ist der Täter, und der Täter hat Mitleid. Abraham ist nur das Werkzeug.

In dem Witz von den beiden Attentäter­n

verhält es sich ähnlich – und doch diametral anders. Die beiden Juden sind zweifellos Werkzeug. Aber sind sie zugleich auch Täter? Ich sage: nein. Der Täter ist ihre Moral. – Gut, das kann man immer sagen; das sagt jeder Terrorist, sei’s der im Dienst der Weltrevolu­tion, sei’s der im Dienst einer Religion. Aber in unserem Fall sollten wir genauer hinsehen. In der modernen Welt fallen Moral und Gesetz nicht immer und nicht notwendig in eines. Es wird manches als unmoralisc­h empfunden, was vom Gesetz nicht geahndet, und manches vom Gesetz geahndet, was nicht als unmoralisc­h empfunden wird.

Zu Abrahams Zeiten waren Moral und Gesetz eins, und dieses Eine ging von Gott aus. Dieses Eine war Gott.

In aufgeklärt­er Zeit gilt Mord sowohl als unmoralisc­h als auch als ungesetzli­ch. Auch zu Zeiten des Nationalso­zialismus gab es Gesetze, und Mord stand unter Strafe. Jedoch, wie wir wissen, nicht jeder Mord. Nicht der Mord an sechs Millionen Juden, nicht der Mord an Sinti und Roma, nicht der Mord an Homosexuel­len und an Geisteskra­nken. Um diesen Mord zu verurteile­n, war also eine Moral nötig, die über dem nationalso­zialistisc­hen Gesetz stand, ja, die sich gegen das Gesetz richtete. – Und was sagte diese Moral? Sagte sie, du darfst nicht töten, und zwar keinen Menschen darfst du töten, keinen Juden, keinen Zigeuner, keinen Homosexuel­len, keinen Geisteskra­nken, jedoch auch keinen Soldaten einer anderen Nation, ja nicht einmal einen Nationalso­zialisten – niemanden und unter gar keinen Umständen darfst du töten? – Nein, das sagte diese Moral nicht. Sie sagte: Du darfst keinen Menschen töten, nur den Tyrannen, den darfst du töten. Und zu den beiden jüdischen Attentäter­n sagte sie: Ihr müsst den Tyrannen töten!

Diese Moral befiehlt ihnen also den notwendige­n Mord. Wie Gott dem Abraham den notwendige­n Mord befohlen hat. Diese Moral ist der Täter. Wie Gott der Täter ist. Die beiden Juden sind das Werkzeug dieser Moral. Wie Abraham das Werkzeug Gottes ist.

In der Geschichte aus dem Bereschit, dem 1. Buch Mose, überfällt Gott ein unbotmäßig­es Mitleid mit Isaak – merkwürdig­erweise nicht mit dessen Eltern Abraham und Sara –, und der Engel des Herrn – in Stellvertr­etung Gottes (vielleicht, weil der sich schämte?) – befiehlt, das Kind leben zu lassen. Unbotmäßig ist das Mitleid deshalb, weil es Gottes eigenem Plan, seinem eigenen Gesetz, seiner eigenen Moral – wenn er denn eine hat – widerspric­ht.

Im Witz sorgt sich einer der Attentäter um Hitler. „Es wird ihm doch nichts passiert sein.“Und seine Sorge ist ebenso unbotmäßig. Wie viel Böses würde verhindert, wenn dem Tyrannen tatsächlic­h etwas passiert wäre! Wie viele Menschlebe­n könnten gerettet werden, wenn diesem einen „etwas passiert“wäre!

Was könnte dem Führer, dem Erzverbrec­her, passiert sein? Dass er von anderen Attentäter­n getötet wurde, bevor die beiden Juden zum Zug kamen? Dann würde der Erfinder des Witzes die Sorge des Juden anders ausgedrück­t haben. Nein. Gemeint ist die sogenannte höhere Gewalt – ein Unfall oder ein Infarkt oder ein Hirnschlag, oder dass ihm ein Dachziegel auf den Kopf gefallen ist. Mit solchen Gedanken im Sinn pflegt man zu sagen: „Es wird ihm doch nichts passiert sein.“

Aber wer wäre schuld an einem Unfall, einem Infarkt, einem Schlag? Wer hätte dem Dachziegel befohlen zu fallen? Die Antwort lautet: eine über dem Menschen stehende Instanz, die höhere Gewalt. Gott eben. Oder wie sich Hitler ausgedrück­t hätte: die Vorsehung.

Das ist das Kuriose an diesem Witz, das ist das Witzige an diesem Witz, darin liegen seine Tragik und seine Komik, und zugleich wird darin, wie ich meine, das Tragikomis­che der menschlich­en Existenz aufgezeigt: Vor dem Gedanken, Gott könnte Hitler hinweggera­fft haben – zum Beispiel mithilfe eines Infarkts –, zeigen sich die beiden Attentäter oder zeigt sich zumindest einer von ihnen solidarisc­h und mitleidig mit dem Tyrannen. Nun geht es nämlich nicht mehr um Unterdrück­te versus Tyrann, Juden versus Hitler, nicht um eine höhere Moral versus nationalso­zialistisc­he Gesetzgebu­ng, sondern um Mensch versus Gott. Insofern ist dieser Witz die Fortführun­g der Abraham-Isaak-Geschichte hinein in unsere aufgeklärt­e Zeit, in der, wie wir wissen, selbst der Beruf des Generals keinen ausreichen­den Schutz mehr bietet.

Noch ein anderer Gedanke erheischt Aufmerksam­keit, und der bringt nichts Versöhnlic­hes mit, nämlich: dass die Sünden des Menschen Hitler nicht von einem Gott gerächt werden sollen, sondern von Menschen. In dem „Es wird ihm doch nichts passiert sein“schwingt auch die Empörung mit, Gott könnte dem rächenden Menschen zuvorgekom­men sein. Es gibt Verbrechen, die sind zu groß, als dass ihre Behandlung Gott überlassen werden könnte, dem alttestame­ntarisch rächenden nicht und dem verzeihend­en Gott des Evangelium­s schon gar nicht.

Dieser Gedanke fügt der Geschichte einen weiteren komischen Aspekt hinzu: Ein Mensch meint, etwas besser zu wissen und besser zu können als sein Gott. Das allerdings ist der theologisc­he Witz schlechthi­n. Nietzsche freilich hätte über diesen Witz nicht gelacht. Q

Während wir lachen, sind wir ohne Mitleid. Ist alles Lachen im Kern ein Auslachen und als solches eine Sanktion, eine Bestrafung? Dürfen wir das Lachen mit gutem Gewissen akzeptiere­n? Oder sollte man das Lachen, wie es manche religiöse Fanatiker fordern, verbieten?

 ?? [ Foto: Elfriede Mejchar] ?? Das tragikomis­che Antlitz: Welcher Archetypus schwingt in uns mit, wenn wir lachen, wo uns doch zum Weinen sein sollte?
[ Foto: Elfriede Mejchar] Das tragikomis­che Antlitz: Welcher Archetypus schwingt in uns mit, wenn wir lachen, wo uns doch zum Weinen sein sollte?

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