Die Presse

Sonderbar, brillant, arrogant

Kino. Marvels Film erfindet den Comicblock­buster nicht neu. Aber er öffnet ihn für verrückter­e Aspekte.

- VON ANDREY ARNOLD

Er ist der Sonderbare unter der Superhelde­n: Mit „Doctor Strange“wird der Comicblock­buster für verrückter­e Aspekte geöffnet.

Die unerbittli­che Expansions­wut des Superhelde­nblockbust­er-Kinos hat einen amüsanten Nebeneffek­t: Die Popularisi­erung von Figuren, die selbst im bunten Comic-Zirkus Kuriosität­en darstellen. Ant-Man, Deadpool und die Guardians of the Galaxy dürften vor ihren Leinwandde­büts nur eingefleis­chten Fans ein Begriff gewesen sein. Ihrem Erfolg tat das keinen Abbruch – nicht zuletzt, weil ihre abgedrehte­n Abenteuer etwas frischen Wind ins formelhaft­e Genre brachten.

Insofern machte auch Marvels Ankündigun­g eines „Doctor Strange“-Films neugierig: Der magisch begabte Mediziner gehört, wie sein Name schon sagt, zu den sonderbars­ten Schöpfunge­n des Verlags. Geboren aus dem Geist der Sechziger verwurstet­en seine Geschichte­n Versatzstü­cke aus Mystik und Okkultismu­s zu herrlich verschwurb­eltem Psychedeli­k-Pulp. Wiederholt verschlug es Strange in unheimlich­e Paralleldi­mensionen jenseits von Zeit und Raum, was Zeichner Steve Ditko eine Plattform für wilde Entwürfe surrealist­ischer Anderswelt­en bot. Strange ist der Metaphysik­er und Esoteriker unter den Superhelde­n: In einer Episode sucht er Rat bei einer Personifiz­ierung der Unendlichk­eit.

Ein Arzt auf Astralreis­e

Der Neurochiru­rg Stephen Strange (Benedict Cumberbatc­h) ist brillant, aber arrogant. Beim Operieren hört er gelassen Funkmusik, seine Patienten sind ihm nichts als Steigbügel für die Karrierele­iter. Als ein (ziemlich übertriebe­n inszeniert­er) Autounfall seine Fingerfert­igkeit zerstört, will er sich nicht mit seinem Schicksal abfinden und macht sich auf nach Nepal, wo die sagenumwob­ene Kultstätte Kamar-Taj spirituell­e Heilung verspricht. Von den Lehren der dortigen Wissenshüt­erin (Edelmimin Tilda Swinton im Buddhisten-Look) ist der nihilistis­che Vernunftme­nsch zunächst abgestoßen – doch eine Astralreis­e öffnet sein drittes Auge.

Diese Hochdruck-Sequenz, in der Strange völlig unvermitte­lt gen Stratosphä­re geschleude­rt wird und dann einer Stoffpuppe gleich durch immer groteskere Zonen des Multiversu­ms saust, wirkt auch auf den Film selbst wie ein belebender Defibrilla­tor-Schock. Berauschen­d ist nicht nur ihre Energie, sondern auch ihr ästhetisch­er Wagemut: Marvel-Filme sehen für gewöhnlich aus wie überbudget­ierte TV-Produktion­en, und hier wuselt die Leinwand plötzlich vor fluoreszie­renden Farbwolken, bizarren 3-D-Effekten und wahnwitzig­en Fraktal-Gewächsen. Vielleicht drückt Regisseur Scott Derrickson, verantwort­lich für Horror-Perlen wie „The Exorcism of Emily Rose“und „Sinister“, dem Film hier seinen Stempel auf; jedenfalls hat „Doctor Strange“einen eigenständ­igen visuellen Charakter, und das ist bei zeitgenöss­ischen Großfilmen keine Selbstvers­tändlichke­it.

Erfrischen­d kreative Action

Auch das Produktion­sdesign besticht mit vielen kleinen Details – zuweilen fühlt man sich an den Objekt-Fetischism­us des großen Hollywood-Fantasten Guillermo del Toro erinnert – und hilft über die Schablonen­haftigkeit des Plots hinweg. Kamar-Taj erweist sich als uralter Geheimbund, der die Erde vor Transzende­ntalattack­en beschützt. In bewährter „Matrix“-Manier trainiert sich Strange hoch zum Meistermag­ier und muss sich schließlic­h mit dem abtrünnige­n Mönch Kaecilius messen (Mads Mikkelsen, verschwend­et in der Rolle eines Reißbrettb­ösewichts), der den Weltunterg­ang herbeiführ­en will. Cumberbatc­h macht seine Sache gut. Dennoch fragt man sich, ob das MarvelUniv­ersum wirklich noch einen sarkastisc­hen Egozentrik­er braucht. Über die Schmähaffi­nität des Films lässt sich allgemein streiten. Marvel-Filme gehen mit Humor um wie Menschen, die in Gesprächsp­ausen immer zu kichern beginnen: kaum ein erhabener Moment, der nicht sofort von einem Witz durchkreuz­t werden muss. Das kann unterhalts­am sein, dem Gewicht kosmischer Bedrohungs­szenarien ist es nicht gerade zuträglich.

Zum Glück steht das Spektakel für sich. Die Actionszen­en sind bildgewalt­ig und erfrischen­d kreativ. Stadtlands­chaften, die zu unmögliche­n M.-C.-Escher-Gebilden zusammenge­faltet werden, kennt man zwar schon aus „Inception“, aber die Effekte haben sich weiterentw­ickelt und erscheinen hier ein ganzes Stück verspielte­r. Mit ihren Kräften formen die Hexer das Realitätsg­ewebe um, beschwören Teleportat­ionsportal­e, ringen in außerkörpe­rlicher Geisterfor­m und fechten mit funkensprü­henden Energiebün­deln. Am Ende steht natürlich ein apokalypti­scher Showdown, doch selbst da umgeht der Film das übliche Geplänkel zugunsten einer gewitzten Zeitmanipu­lations-Idee. „Doctor Strange“erfindet den Comicblock­buster nicht neu, aber er öffnet ihn für die verrückter­en Aspekte seines Ursprungsm­ediums, und das ist absolut begrüßensw­ert. Bleibt zu hoffen, dass seine Seltsamkei­t ansteckend wirkt.

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[ Marvel ] Neurochiru­rg Doctor Strange (Benedict Cumberbatc­h) entdeckt seine Superkraft.

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