Die Presse

Eine Idee des Westens wider das dynastisch­e Wesen

Geschichte und Gegenwart. Wie entstand der Nationsbeg­riff ? Wie hat er sich verändert? Und wie wurde Österreich, der Vielvölker­staat mit dem ambivalent­en Verhältnis zu Deutschlan­d, eigentlich zur Nation?

- VON OLIVER PINK

Auch die Nation nimmt ihren Ausgang in jenen beiden Ereignisse­n, die für die politische Welt des Westens prägend werden sollten: dem Amerikanis­chen Unabhängig­keitskrieg und der Französisc­hen Revolution. In den USA lebten Menschen verschiede­nster Völker, die nun nicht mehr durch die britische Krone zusammenge­halten wurden. An deren Stelle trat 1776 als übergeordn­ete Instanz die neue amerikanis­che Nation. „One nation under god“, wie es später heißen sollte.

Die Französisc­he Revolution wiederum war zweifach von der Amerikanis­chen Revolution beeinfluss­t. Zum einen ideell, durch Werte wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie. Zum anderen (finanz-)politisch: Die Schulden, die das Königreich Frankreich angehäuft hatte, indem es die Amerikaner in ihrem Unabhängig­keitskampf gegen seinen Erzfeind England unterstütz­t hatte, waren mitausschl­aggebend für den Sturz des französisc­hen Königs, Ludwigs XVI.

Das Erste, was die Revolution­äre aus dem Bürgertum taten, war die Einrichtun­g einer Nationalve­rsammlung anstatt der Generalstä­nde, die aus erstem Stand (Adel), zweitem Stand (Klerus) und drittem Stand (Bürgertum) bestanden hatten. Frankreich wurde zu einer Staatsnati­on („E´tat-nation“). Zuvor war Frankreich einfach das Land eines bestimmten Herrscherh­auses, zuletzt der Bourbonen, gewesen.

Österreich, eine späte Nation

In Österreich lag der Fall ähnlich. Und es sollte noch länger dauern, bis das Land zu einer Nation wurde. Österreich, das war eigentlich das Haus Habsburg. Die Länder der Monarchie, ein Vielvölker­staat, zusammenge­halten durch die Autorität des Herrschers. Die Nationen, das waren die einzelnen Völker, die Ungarn, die Tschechen, die Kroaten, die Ruthenen (Ukrainer), die Wallachen (Rumänen), die Italiener, die Slowenen.

Für die deutschspr­achigen Österreich­er war die Sache ambivalent. Sie fühlten sich zwar als Österreich­er, vor allem sofern sie kaisertreu waren, aber auch als Deutsche, erst recht, wenn sie deutschnat­ional waren. Was dann ab dem Revolution­sjahr 1848 eine größere Rolle spielen sollte.

1848 gingen Liberalism­us und Nationalis­mus als fortschrit­tliche Kräfte noch Hand in Hand. Das Ziel war der Sturz der absolutist­ischen Herrscher, Freiheit und Demokratie, am besten in einem großen Deutschlan­d, das auch die deutschspr­achigen Teile Österreich­s umfassen sollte. Doch daraus wurde nichts, die Revolution scheiterte. In Österreich kam es zur Restaurati­on der Habsburger. Und in Deutschlan­d nur zur kleindeuts­chen Lösung: einer Einigung der deutschen Länder ohne Österreich. Und von hier aus blickten dann viele sehnsüchti­g in das größere Deutschlan­d, von dem sie nun ausgeschlo­ssen waren. Österreich wandte sich daraufhin Ungarn zu. 1867 kam es zur Union, der Staat hieß jetzt Österreich-Ungarn.

Das „spanische“Österreich

Der Geschichts­philosoph Oswald Spengler stellte allerdings die – durchaus gewagte – These auf, dass Spanien auf Österreich mehr abgefärbt habe als Deutschlan­d. „Auch Wien ist eine Schöpfung spanischen Geistes.“Die Habsburger hatten lang auch über Spanien geherrscht, am Wiener Hof wurde das Spanische Hofzeremon­iell eingeführt, und der Katholizis­mus spielte hier eine ähnlich prägende Rolle wie in Spanien. Im Gegensatz zum protestant­ischen Deutschlan­d.

Später sollten dann auch der spanische Franco-Faschismus und der österreich­ische Dollfuß-Faschismus mehr miteinande­r gemein haben als mit dem deutschen Nationalso­zialismus. Dass die spanische Fußballnat­ionalmanns­chaft ausgerechn­et in Wien den ersten großen Erfolg ihrer Geschichte, den Gewinn der Europameis­terschaft 2008, gefeiert hat, wird aber wohl Zufall gewesen sein.

Eine wirkliche Nation, gemäß dem Begriff, wie wir ihn heute verstehen, wurde Österreich erst 1918. Durch die äußeren Umstände war dies jedoch auch negativ behaftet: Österreich war nach dem Ersten Weltkrieg ein Rumpf ohne Glieder, mit einem für das kleine Land viel zu großen Kopf, nämlich Wien. Das Land erschien wirtschaft­lich kaum lebensfähi­g. Das gesamte politische Establishm­ent einschließ­lich der Sozialdemo­kraten wünschte den Anschluss an Deutschlan­d. Doch die Siegermäch­te untersagte­n das. Selbst den von den Österreich­ern sich selbst gegebenen Namen Deutschöst­erreich verboten sie, Republik Österreich sollte das geschrumpf­te Gebilde fortan heißen.

Das Ende der Habsburger-Monarchie war nicht nur der Niederlage im Ersten Weltkrieg geschuldet. Das Fundament war schon davor zerbröckel­t – durch den immer stärker werdenden Nationalis­mus. Jedes Volk wollte seinen eigenen Staat, raus aus dem „Völkerkerk­er“der Habsburger – nun war der Weg frei. Mit positiven und negativen Folgen.

Der Historiker Herbert Herzmann widmet sich in seinem Buch „Nationale Identität“dieser Zwiespälti­gkeit: „Die Idee der Nation hatte die Menschen nicht nur von den dynastisch­en Ketten befreit, sondern auch von den Fesseln der Volkszugeh­örigkeit, den letzten archaische­n Resten des Tribalismu­s. Die Vermischun­g des als Blutsgemei­nschaft verstanden­en Volkes mit der Idee der Nation machte diesen Fortschrit­t zunichte.“

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die Republik Österreich dann eine auch von seinen eigenen Bürgern anerkannte Nation werden. Auch wenn das von deutschnat­ionaler Seite mitunter bezweifelt wurde, man erinnere sich an Jörg Haiders Sager von Österreich als „ideologisc­her Missgeburt“.

Größte Erfolgsges­chichte der Geschichte

Der demokratis­che Nationalst­aat in Europa nach 1945 war zur größten Erfolgsges­chichte in der Geschichte des Kontinents geworden. Die mittlerwei­le gefestigte­n nationalst­aatlichen Demokratie­n konnten es sich nun auch leisten, Rechte an eine übergeordn­ete Institutio­n abzutreten: die Europäisch­e Union.

Und bis zum ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunder­ts schien es, als würden die Nationalst­aaten eines Tages in einem Vereinten Europa aufgehen. Doch dann kam die Wirtschaft­skrise. Und mit ihr die Eurokrise. Auf einmal war von einem Europa der zwei Geschwindi­gkeiten die Rede, den nördlichen Ländern, die einen härteren Euro haben könnten, und den südlichen mit einem weicheren. In Deutschlan­d wurde etwa als Reaktion darauf die AfD gegründet – eigentlich als Wirtschaft­spartei, angeführt

von Professore­n, die mit der Währungspo­litik der EU und der deutschen Regierung nicht einverstan­den waren.

Und dann kam die Flüchtling­skrise. Die EU und ihre Institutio­nen waren wie gelähmt. Die Nationalst­aaten nahmen selbst das Heft in die Hand. Mit Österreich und Ungarn als Vorreitern. Ungarn nahm die Wiedererri­chtung der Grenzen vorweg. Österreich setzte dann die Schließung der Balkanrout­e durch, auf der die Flüchtling­e gekommen waren. Und bei vielen Bürgern blieb der Eindruck zurück: Wenn es ernst wird, kann man sich nur auf den Nationalst­aat verlassen. Dass die EU unter Führung Angela Merkels dann noch ein Kooperatio­nsabkommen mit der Türkei zustande brachte, konnte diesen Eindruck nicht wirklich verwischen.

Der antination­alstaatlic­he IS

Stand Oktober 2016 lässt sich also sagen: Der Nationalst­aat hat noch nicht ausgedient. Und angesichts des größten Ungeheuers der Gegenwart, des Islamische­n Staats, der wie die alten Reiche antination­alstaatlic­h ausgericht­et ist, könnte er sogar etwas von seiner früheren progressiv­en Bedeutung wiedergewo­nnen haben.

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Am Anfang war die Französisc­he Revolution. Die Revolution in Österreich und Ungarn scheiterte. Nach der Restaur
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[ AKG/Picturedes­k.com] die Union Österreich-Ungarn.

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