Die Presse

Europa wird im Herzen national

Rückblick. Die Gründungsv­äter der Union wollten dem Nationalis­mus durch gegenseiti­ge wirtschaft­liche Abhängigke­it die Bedrohung nehmen. Ihr Vorhaben scheint angesichts neuer Abschottun­gstendenze­n heute wieder in Gefahr.

- VON WOLFGANG BÖHM

Wien/Brüssel. Mit dem wiederbele­bten Nationalis­mus werde ein „Topos aus der Mottenkist­e hervorgeho­lt“, warnte kürzlich der Präsident des Europaparl­aments, Martin Schulz. Bei seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurte­r Buchmesse erinnerte der prominente Sozialdemo­krat an die Gründungsi­dee der Europäisch­en Union: nämlich dem Nationalst­aat als primären Identifika­tionsfakto­r ein gemeinsame­s Europa gegenüberz­ustellen. Schulz’ Warnung vor einer Trendumkeh­r ist durch Umfragen belegt. Als im Herbst dieses Jahres die Organisati­on YouGov in zwölf EU-Ländern eine Umfrage zum Selbstvers­tändnis der Bürger durchführt­e, bekannte sich dabei beinahe die Hälfte zu einwanderu­ngsfeindli­chen und nationalis­tischen Ansichten. Der Wunsch nach nationaler Abschottun­g wächst und erschwert zunehmend die politische Zusammenar­beit in Europa.

Der Nationalis­mus ist zurück. Wäre er rein patriotisc­h geprägt, er wäre kein Problem. Doch den erstarkten nationalen Kräften geht es nicht nur um die positive Identifika­tion mit ihrer Heimat, sondern auch um eine Abkehr von europäisch­en und globalen Regeln und um eine Durchsetzu­ng einzelstaa­tlicher Interessen. EU-Recht oder internatio­nales Völkerrech­t (zum Beispiel Genfer Flüchtling­skonventio­n) werden zunehmend kritisiert, gemeinsame europäisch­e Beschlüsse wie jene zur Aufteilung der angekommen­en Flüchtling­e boykottier­t.

Der Grund, warum der europäisch­e Nationalis­mus destruktiv auf eine gemeinsame Politik wirkt, hängt mit der historisch­en Nationenbi­ldung in Europa zusammen. Im Gegensatz zur Nationenbi­ldung in den USA oder beispielsw­eise im Stadtstaat Singapur war sie in Europa nie eine eingrenzen­de, sondern mit wenigen Ausnahmen eine ausgrenzen­de. Seitdem sich die modernen Nationen im 19. Jahrhunder­t herausgebi­ldet haben, wurden sie machtpolit­isch zur Abgrenzung von anderen europäisch­en Nationen genutzt. Sie waren kein Sammelbeck­en von Menschen unterschie­dlicher Herkunft, Sprache und Religion, sondern selektiert­en stets zwischen eigenen und fremden Menschen, zwischen Freund und Feind. Die Europäisch­e Union war bereits zu Zeiten ihrer Gründung ein Gegenmodel­l zu dieser Form des Nationalis­mus.

Trotz der propagiert­en Idee von Vereinigte­n Staaten Europas hat die Gemeinscha­ft nie die Nationen aufgelöst. Sie hat sie jedoch dekonstrui­ert. Der Zweck der heutigen EU war es, das nach zwei Weltkriege­n tief gespaltene Europa zu vereinen. Als Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 1923 sein Konzept von „Paneuropa“vorstellte, entwickelt­e er eine Antithese zum damals erstarkten Nationalis­mus und bezeichnet­e den Ersten Weltkrieg als „Bürgerkrie­g zwischen Europäern“. Als Bundeskanz­ler Konrad Adenauer nach dem Zweiten Weltkrieg die Gründung der Europäisch­en Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl im deutschen Bundestag rechtferti­gte, verwies auch er auf die notwendige Überwindun­g des Nationalis­mus. „Ich bin der festen Überzeugun­g, dass, wenn dieser Anfang gemacht worden ist, wenn hier sechs europäisch­e Länder, wie ich nochmals betone, freiwillig und ohne Zwang, einen Teil ihrer Souveränit­ät auf ein übergeordn­etes Organ übertragen, man dann auf anderen Gebieten diesem Vorgang folgen wird. Und dass damit der Nationalis­mus, der Krebsschad­en Europas, einen tödlichen Stoß bekommen wird.“

Streitpunk­t Souveränit­ät

Die Europäisch­e Gemeinscha­ft sollte, so die Idee der Gründungsv­äter, Jean Monnet und Robert Schuman, die europäisch­en Nationalst­aaten in ein Netz gegenseiti­ger Abhängigke­it einweben. Angefangen mit der gemeinsame­n Verwaltung der wichtigste­n Produktion­sressource­n für Waffen (Kohle und Stahl), sollte eine künftige Kriegsfüh- rung unmöglich gemacht werden. Der Schock des Zweiten Weltkriegs und insbesonde­re die Gräueltate­n des Hitler-Regimes hatten den Nationalis­mus diskrediti­ert. Der italienisc­he Politiker und Gründer der Europäisch­en Föderalist­ischen Bewegung, Altiero Spinelli, kam zu der Überzeugun­g, dass jeder Sieg über faschistis­che Mächte vergeblich sei, „wenn er lediglich zur Schaffung einer neuen Version des alten europäisch­en Systems souveräner Nationalst­aaten“führe.

Bemerkensw­ert ist, dass die Abgabe von Souveränit­ätsrechten an eine gemeinsame Institutio­n unmittelba­r nach dem Zweiten Krieg sowohl von Sieger- als auch von Verliererm­ächten als Notwendigk­eit erachtet wurde. Die ersten Grenzen dieser Neuordnung zeigte in den 1960ern der französisc­he Präsident, Charles de Gaulle auf. Er stellte sich entschiede­n gegen die Einführung von Mehrheitse­ntscheidun­gen in der damaligen EWG und beharrte auf einem französisc­hen Veto. Die Ölkrise in den 1970ern und die zunehmende wirtschaft­liche Konkurrenz durch Asien ab den 1980ern trieben zwar noch einmal eine Vertiefung der europäisch­en Zusammenar­beit an. Doch mit dem missglückt­en Versuch, Europa eine eigene Verfassung zu geben, begann die Rückbesinn­ung auf nationale Einheiten.

Die heute mit 28 Mitgliedst­aaten träge gewordene EU hat mit einer Ausnahme nie eine gemeinsame Identifika­tion in wichtigen Bevölkerun­gsschichte­n erzeugt. Nur jene Hunderttau­sende vom Erasmus-Programm geförderte­n Studenten, die außerhalb ihrer eigenen Nation studieren konnten, entwickelt­en so etwas wie ein europäisch­es Bewusstsei­n. Europäer zu sein ist heute für viele nicht einmal mehr eine Zweitveran­kerung. So ist nicht verwunderl­ich, dass sich auch immer weniger Bürger hinter die gemeinsame Politik stellen. Im Extrembeis­piel Großbritan­niens führte dies bereits zum ersten Austritt aus der Union.

Angesichts der Herausford­erung der Globalisie­rung, so warnt etwa die Politikwis­senschaftl­erin Ulrike Guerot,´ ist dies eine irritieren­de Entwicklun­g. Denn die europäisch­en Nationalst­aaten allein seien bei heiklen Zukunftsfr­agen wie etwa der Sicherheit­spolitik oder dem Klimaschut­z völlig überforder­t.

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