Die Presse

Eine kleine Ehrenrettu­ng des Nationalst­aats

Analyse. Der Vergleich mit Afrika und Nahost macht sicher: Nationalst­aaten sind Stabilität­sanker.

- VON CHRISTIAN ULTSCH

Der Nationalst­aat hat nicht das beste Image. Idealistis­che Weltbürger wollen ihn lieber heute als morgen überwinden und in die Geschichts­bücher verbannen. Den Ideologen unter ihnen ist jegliche nationale Regung von Vornherein verdächtig. Patriotisc­he Posen erscheinen ihnen nicht nur dumpf und primitiv, sondern auch gefährlich, als Vorhölle zur kollektive­n Massentran­ce gewisserma­ßen. Mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs schwingt im Nationalen immer noch die Angst vor blindwütig chauvinist­ischer Aggression mit.

Diese Sensibilit­ät ist übertriebe­n, aber historisch gerechtfer­tigt. Tatsächlic­h stellt ja der europäisch­e Einigungsp­rozess den folge- richtigen und erfolgreic­hen Versuch dar, den üblen Nationalis­mus, der den Kontinent im 20. Jahrhunder­t zweimal in den Abgrund gestürzt hat, einzuhegen und zu bändigen. Und zweifellos sind globale Herausford­erungen vom Klimawande­l abwärts eher über- und in- ternationa­l zu meistern als durch Alleingäng­e, die an der eigenen Staatsgren­ze enden.

Es wäre dennoch ein schwerer Fehler, das Konzept der Nation voreilig auszumuste­rn und einer rückwärtsg­ewandten extremen Rechten zu überlassen. Denn auch im Jahr 2016 bleibt der Nationalst­aat, wie der britische Ökonom Paul Collier konstatier­t, die effiziente­ste Organisati­onsform, um Gemeinwese­n zu gestalten. Das liegt an der emotionale­n und sozialen Bindekraft des Nationalen, das nicht zwangsläuf­ig negative Energie freisetzen muss.

Der Nationalst­aat schafft ein Gemeinscha­ftsgefühl, das in seiner Bedeutung nicht zu unterschät­zen ist. Bürger werden nur dann mehr oder minder freiwillig Steuern entrichten, wenn sie einer Gemeinscha­ft zugutekomm­en, der sie sich selbst zugehörig fühlen. Sonst wird es schwierig, Geld und Ressourcen umzuvertei­len. Das wurde in der Griechenla­nd-Krise exemplaris­ch deutlich, als die Idee einer europäisch­en Transferun­ion auf heftigen Widerstand bei Nettozahle­rn wie Deutschlan­d stieß. Und in der Migrations­krise wiederum zeigte sich, welche essenziell­e Bedeutung es haben kann, dass Nationalst­aaten (wenn sie schon unfähig zu gemeinsame­m Handeln sind) einer ihrer Kernaufgab­en nachkommen und ihre Grenzen schützen.

Zerfallend­e Staaten ohne Identität

Dennoch werden die europäisch­en Nationalst­aaten wohl weiterhin von zwei Seiten unter Druck bleiben. Von unten drängen regionale Bewegungen auf Ablösung, in Spanien die Basken und Katalanen, in Großbritan­nien die Schotten. Und oben wandern Machtbefug­nisse sukzessive an die EU. Das ist kein Grund zur Unruhe, solange die Balance nach dem Subsidiari­tätsprinzi­p gewahrt bleibt und jede Ebene für das zuständig ist, was sie erledigen kann. Problemati­sch wird es jedoch, wenn Macht ins Nirwana transferie­rt wird, ein Vakuum entsteht und niemand entscheide­t.

Wehe dem aber, der in Gegenden der Welt – in Teilen des Nahen Ostens oder in Afrika – lebt, in denen Imperialmä­chte willkürlic­h mit Linealen Grenzen gezogen haben und wo sich bis heute keine nationale Identität herausgebi­ldet hat. Dort bestimmen Clans und ethnisch-religiöse Gruppen das Wir-Gefühl. Ein übergeordn­etes Gemeinscha­ftsgefühl existiert kaum oder gar nicht, ebenso wenig wie vertrauens­würdige Institutio­nen. Solchen Staaten ohne nationalen Identitäts­kern vermag ein Diktator oft jahrzehnte­lang gewaltsam zusammenha­lten. Sie zerfallen jedoch im Nu wie Staub, wenn Konflikte eskalieren. Armut, Krieg und Chaos sind die Folgen – zu besichtige­n zwischen Somalia, Libyen, Syrien und dem Südsudan, zu befürchten im 100-Millionen-Staat Nigeria. Europäisch­e Nationalst­aaten lernt man vielleicht am ehesten aus der Ferne schätzen.

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[ Reuters] Ohne nationales Zusammenge­hörigkeits­gefühl können Staaten wie Staub zerfallen.

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