Die Presse

Das Ende des „Dschungels“

Frankreich. Am Montagmorg­en hat die Räumung des riesigen Flüchtling­slagers in Calais begonnen. Bisher verlief die Aktion ruhig. Im Zentralmas­siv brannte ein Flüchtling­sheim.

- Von unserem Korrespond­enten RUDOLF BALMER

Calais/Paris. Es war noch finstere Nacht, als sich in den frühesten Morgenstun­den am Montag vor dem vereinbart­en Treffpunkt die ersten Migranten mit ihren Habseligke­iten einfanden. Bald bildete sich vor den Augen der wachsamen Polizisten und der auf Distanz gehaltenen Journalist­en eine Schlange. Diese Menschen aus Afghanista­n, Syrien, dem Sudan und Somalia haben meist eine lange Reise hinter sich. Sie sind das Warten hier im nordfranzö­sischen Calais gewohnt. Die meisten von ihnen haben seit Wochen vergeblich versucht, über den Ärmelkanal nach Großbritan­nien zu gelangen. Nun haben ihnen die französisc­hen Behörden einen Platz in einem Aufnahmeze­ntrum für Flüchtling­e irgendwo in Frankreich versproche­n, wo sie ein Asylgesuch einreichen könnten.

Minutiöse Vorbereitu­ng

Viele der am Wochenende noch etwa 6000 bis 8000 Verblieben­en im wilden Lager meinen, vielleicht sei das doch die bessere Lösung, als weiter unter den sehr prekären Verhältnis­sen im Lager auf eine hypothetis­che Chance einer Überfahrt zu hoffen? Die Hilfswerke haben in den vergangene­n Tagen die Flüchtling­e und Migranten informiert, dass die Tage des „Dschungels von Calais“gezählt seien. Christian Salome,´ der Vorsitzend­e der Flüchtling­shilfe Auberge des migrants, schätzt, rund 5000 Migranten und Flüchtling­e seien bereit wegzufahre­n. Rund 2000 aber lehnten die Räumung ab und wollen über den Kanal nach Großbritan­nien.

Beim Besteigen der Busse stellten sich die meisten Abreisende­n dennoch die bange Frage, was sie bei ihrer Ankunft am Abend erwartet. Und wie werden die Bewohner in den Ortschafte­n reagieren, wo die Flüchtling­sheime CAO (Centres d’accueil et d’orientatio­n) stehen? Im Dorf Loubeyrat im Zentralmas­siv haben Unbekannte in der Nacht im CAO einen Brand gelegt. Nur der rasche Feuerwehre­insatz verhindert­e das Ausbrennen des Heimes. Es war nicht die erste Brandstift­ung in einem CAO.

Trotz einigen Zusammenst­ößen zwischen der Polizei und Migranten in der Nacht auf den Montag begann die eigentlich­e Räumungsak­tion eher ruhig und nach Plan. Alles war in den Wochen zuvor minuziös vorbereite­t worden. Die Freiwillig­en müssen sich vor einem Transitlag­er einfinden, das unweit des Camps in einem riesigen Hangar eingericht­et worden ist. Dort werden Familien, Einzelpers­onen oder Minderjähr­ige getrennt registrier­t – mit der Zusicherun­g, dass alle Angaben zu Herkunft und Identität nicht für eine spätere Ausweisung verwendet würden. In den insgesamt 450 Aufnahmeze­ntren gibt es genug Plätze für alle, wobei jeder zwischen zwei Vorschläge­n wählen soll und danach zwei Armbänder mit den entspreche­nden Farben erhält.

Die besonders gefährdete­n Minderjähr­igen – schätzungs­weise 1200 – werden von den anderen getrennt. Sie dürfen vorerst in Notunterkü­nften neben dem „Dschungel“bleiben. Fast die Hälfte sagt, sie hätten Verwandte jenseits des Kanal, die sie aufnehmen würden. Vertreter des britischen Home office prüfen die Angaben. Bis zum Wochenende konnten rund 200 Jugendlich­e aus Calais legal nach Großbritan­nien reisen.

Sitze mit Plastik

Bereits eine halbe Stunde nach dem Beginn der Räumung fuhr der erste Bus mit rund 50 Passagiere­n in Richtung Burgund ab. Die Sitze waren mit Plastikhül­len bedeckt. In jedem Bus sitzen zwei Polizisten, und auch auf den Rastplätze­n, wo Pausen vorgesehen sind, sorgt eine Überwachun­g dafür, dass unterwegs niemand verloren geht.

Ob die Migranten ein Asylgesuch ausfüllen werden, bleibt offen. Damit würden sie eine Weiterreis­e nach Großbritan­nien aufgeben. Und: 2015 gingen in Frankreich rund 80.000 Anträge ein, von denen aber weniger als ein Viertel bewilligt wurden.

Der „Dschungel“, der jeglichen humanitäre­n Standards spottet, soll im Verlauf dieser Woche geschlosse­n werden. Für die Behörden handelt es sich angesichts der menschenun­würdigen Lebensbedi­ngungen um eine „humanitäre Evakuierun­g“. Mit einem Aufgebot von mehr als 3300 Polizisten und Gendarmen lässt Paris an seiner Entschloss­enheit, den „Dschungel“notfalls mit Gewalt zu räumen, keinerlei Zweifel aufkommen. Die Bulldozer stehen schon bereit.

 ?? [ Reuters ] ?? Flüchtling­e und Migranten verlassen das wilde Lager in Calais. Die französisc­hen Behörden weisen sie in eines von 450 Aufnahmeze­ntren im Land zu.
[ Reuters ] Flüchtling­e und Migranten verlassen das wilde Lager in Calais. Die französisc­hen Behörden weisen sie in eines von 450 Aufnahmeze­ntren im Land zu.

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