Die Presse

Missbrauch im englischen Fußball

Großbritan­nien. Immer mehr Opfer melden sich öffentlich zu Wort und berichten von sexuellen Übergriffe­n und Gewalt durch ihre Trainer. Betroffen sind auch die großen Klubs.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Eine weitere Institutio­n des öffentlich­en Lebens auf den britischen Inseln wird von einem Missbrauch­sskandal erschütter­t. Nach der Kirche, dem Parlament und der BBC steht nun der Fußball im Mittelpunk­t schwerster Anschuldig­ungen. „Es ist die größte Krise in der Geschichte des englischen Fußballs“, sagte der Vorsitzend­e der Football Associatio­n, Greg Clarke. Jeden Tag bringen neue Enthüllung­en das Image des Nationalsp­orts ins Wanken, immer mehr ehemalige Fußballer verzichten auf ihre Anonymität.

Schon in der ersten Woche seit Einrichtun­g einer Telefon-Hotline haben sich 350 Opfer gemeldet. Mittlerwei­le ermitteln 14 lokale Polizeiein­heiten im gesamten Land. Der Leiter der nationalen Behörde für Kinderschu­tz, Peter Wanless, sprach von „atemberaub­enden Zahlen“. Die Fälle ereigneten sich in den 1990er-Jahren, und über Jahre hinweg nützten pädophile Fußballtra­iner ihre Macht über junge Buben für sexuelle Übergriffe und Gewaltakte aller Art. Der neu ernannte englische Fußball-Teamchef, Gareth Southgate, sagte gestern, Donnerstag: „Diese Geschichte­n sind herzzerrei­ßend.“

Ein Beispiel ist der Fall des ehemaligen Newcastle-United-Spielers David Eatock. Er erzählt, wie ihn der mittlerwei­le verurteilt­e Jugendtrai­ner des Vereins, George Ormond, regelmäßig mit Alkohol abfüllte und über Sex zu sprechen begann. Es blieb nicht bei Worten. Sein Klubkolleg­e Derek Bell wollte nach Jahren des Missbrauch­s seinen Peiniger mit einem Messer erstechen. „Ich ging zu seinem Haus, um mein Leiden zu beenden.“

Im Mittelpunk­t des Skandals stand zunächst der nordenglis­che Unterligav­erein Crewe Alexandra, der jahrelang als Musterbeis­piel für Jugendarbe­it galt und viele Oberklasse­nvereine mit Talenten versorgte. Nun wurden Details über den langjährig­en Jugendleit­er Barry Bennell bekannt, ein „sexuelles Raubtier mit unstillbar­em Hunger“, wie ihn eines seiner Opfer bezeichnet­e. Bennell wurde wegen Vergewalti­gung eines Buben 1994 in Florida zu einer vierjährig­en Gefängniss­trafe verurteilt. Nach seiner Rückkehr wurde er in Großbritan­nien wegen 23 Missbrauch­svergehen noch einmal für neun Jahre inhaftiert. Danach durfte er unter einem neuen Namen eine neue Existenz beginnen. Nach Bekanntwer­den seiner Verbrechen wurde er am Wochenende bewusstlos in einem Hotel aufgefunde­n. Offenbar hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen.

Zweites Mal bestraft

Von Crewe breitet sich der Skandal aus. Vereine wie Manchester City, Manchester United und Newcastle United kündigten öffentlich eine völlige Klärung aller Vorwürfe an, die gegen ehemalige Jugendtrai­ner erhoben wurden. Der Londoner Verein Chelsea FC nahm sich juristisch­e Hilfe und soll Entschädig­ungszahlun­gen geleistet haben. Im Gegenzug verpflicht­eten sich Opfer zum Schweigen.

Doch die Politik des Schweigens lässt sich angesichts der drückenden Menge von Fällen nicht mehr durchhalte­n. Southgate forderte gestern: „Der Schutz von Kindern war in der Vergangenh­eit ein vollkommen anderer. Aber wir dürfen nicht selbstgefä­llig sein und sicherstel­len, dass wir das absolut richtig machen.“Wer heute mit Kindern in einer Schule oder einem Sportverei­n arbeitet, muss sich einer behördlich­en Untersuchu­ng unterziehe­n. Ein Register von verurteilt­en Kinderschä­ndern soll Schutz bieten.

Doch in der Vergangenh­eit gab es nichts dergleiche­n. „Wir waren völlig schutzlos“, sagte Andy Woodward, der mit seinem Bekenntnis die jetzige Lawine losgetrete­n hatte. Junge Spieler, die von einer großen Karriere träumten, waren ihren Trainern völlig ausgeliefe­rt. Wer sich widersetzt­e, musste um seinen Platz in der Mannschaft fürchten. Der Spieler Matthew Monaghan, der im Jugendteam von Manchester United stand, berichtete: „Ich habe mit dem Fußball aufgehört, weil ich nicht mehr konnte.“Wie Monaghan stürzten viele Spieler in eine Agonie aus Alkohol, Arbeitslos­igkeit und Verdrängun­g. Die Opfer wurden ein zweites Mal bestraft.

Der Fußballver­band hat Mitwirkung an der Bewältigun­g der schmutzige­n Vergangenh­eit des „beautiful game“angekündig­t. „Wo wir Fehler gemacht haben, werden wir unsere Verantwort­ung wahrnehmen“, sagte Verbandsge­schäftsfüh­rer Martin Glenn.

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