Die Presse

Charlie kitzelt Petry und Merkel

Satiremaga­zin. Seit Donnerstag ist das erste deutsche „Charlie Hebdo“-Heft erhältlich: genüsslich geschmackl­os wie das Original, aber mit wenig humoristis­chem Gewinn.

- VON THOMAS PRIOR UND ANNE-CATHERINE SIMON

Noch vier Jahre, um sie lieb zu gewinnen“, steht groß im Blattinner­en zwischen neun Karikature­n der deutschen Kanzlerin. Ob vier Jahre der deutschen Version von „Charlie Hebdo“reichen werden, um den Lesern ans Herz zu wachsen? Es lag natürlich nahe, dass sich das erste Heft, das seit dem 1. Dezember erhältlich ist, Angela Merkel und ihrer vor Kurzem angekündig­ten Wiederkand­idatur widmen würde. Schon auf den Werbeplaka­ten war die bekanntest­e Deutsche karikiert worden: auf dem WC sitzend, „Charlie Hebdo“lesend, dazu die Zeile: „Wirkt befreiend – ab sofort auch in Deutsch.“Das Cover zeigt Merkel mit Ringen unter den Augen, erschöpft auf einer Hebebühne. Darunter steht ein Mechaniker mit VW-Kappe, begutachte­t einen Auspuff und sagt: „Ein neuer Auspuff, und es geht noch vier Jahre weiter.“Daneben: „VW steht hinter Merkel.“

Produziert in Paris – von Deutschen

Das deutschspr­achige „Charlie Hebdo“, das auch in Österreich erhältlich ist, hat eine Auflage von 200.000 Stück. Produziert wird es in Paris, von einer zwölfköpfi­gen deutschen Mannschaft, die von der Journalist­in Minka Schneider – ein Pseudonym – geleitet wird. Ihre Kollegen sind hauptsächl­ich Übersetzer und Lektoren. Denn fürs Erste werden vor allem Karikature­n und Texte des französisc­hen Mutterblat­ts übersetzt. Künftig soll es immer mehr eigene Inhalte und Kooperatio­nen mit deutschen Zeichnern geben.

Wenn nun im Blattinner­en Angela Merkel splitterna­ckt auf der EU-Fahne tanzt, unter dem Motto „Letzte Bastion der Freien Welt!“, dann ist das – wie für das französi- sche Original kennzeichn­end – zwar genüsslich geschmackl­os; allerdings wie das meiste andere mit erstaunlic­h wenig humoristis­chem oder intellektu­ellem Gewinn, stattdesse­n umso mehr platten Botschafte­n: Unter der Rubrik „Von diesen Titelseite­n bleiben sie verschont“sieht man etwa Frauke Petry und liest „Den Scheitel hat sie schon, fehlt nur noch das Bärtchen“. Mehrere Seiten unter dem Titel „Wer lebt glücklich in Deutschlan­d?“sind schon bemerkensw­erter: Das vielfältig­e Mosaik aus Gedanken in Deutschlan­d lebender Menschen zur aktuellen Lage wirkt, anders als die Karikature­n, ausnahmswe­ise nicht auf dem ideologisc­hen Reißbrett entworfen.

Jenseits des Karikaturi­stischen bietet das deutsche „Charlie Hebdo“eine bunte Reihe an Themen, besonders, aber nicht nur geeignet für frankophil­e Leser: Sexismus im Alltag oder ein Interview mit dem konservati­ven Bürgermeis­ter, der aus dem schwedisch­en Växjö die „grünste Stadt Europas“gemacht hat; die Rezension eines Buchs der Philosophi­n Sophie Djigo über die Bewohner des geräumten Flüchtling­slagers von Calais; einiges über den (dem Magazin selbstvers­tändlich verhassten) konservati­ven Shooting Star der französisc­hen Politik Francois Fillon; oder einen schönen Text des bei den Anschlägen auf die „Charlie Hebdo“-Redaktion schwer verletzten Philippe Lancon¸ über seine veränderte (Zeit-)Erfahrung nach dem 7. Jänner 2015.

„Endlich überqueren wir den Rhein!“

Karikaturi­st Laurent Sourisseau alias Riss, der die Zeitung mit Gerard´ Biard leitet, wurde angeschoss­en, als die Redaktion am 7. Jänner 2015 von Islamisten angegriffe­n wurde, zwölf seiner Kollegen verloren damals ihr Leben. Für „Charlie Hebdo“sei die Expansion ein Experiment, gestand er der Nachrichte­nagentur AFP. Aber in Deutschlan­d hätten er und seine Kollegen große Neugierde gespürt. Dass die Deutschen „bei den elektronis­chen Abos weit an der Spitze“liegen, hatte Biard schon im Sommer gegenüber der „Presse“verwundert festgestel­lt. „Endlich überqueren wir den Rhein und freuen uns auf das Jauchzen von Angela Merkel und Frauke Petry, wenn wir die beiden ein bisschen unter den Achseln kitzeln“, verkündet das Vorwort. Aber wer weiß, vielleicht war die Liebe der Deutschen zu „Charlie“ein Missverstä­ndnis, und das exotische, durch die Anschläge berühmt gewordene Produkt entzaubert sich in der Nahansicht. Zumal Deutschlan­d mit „Titanic“schon ein überzeugen­des Satiremaga­zin hat.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria