Die Presse

Der lange Kampf gegen das Establishm­ent

Geschichte. Heute haben Wahlen und Referenden immer mehr Ähnlichkei­t mit Strafaktio­nen. Wenn es gegen die „korrupten“, „verkommene­n“Eliten geht, ist sich das Trump-, Brexit- und FPÖ-Lager einig. Früher kam der Protest von links.

- VON GÜNTHER HALLER

Der britische Journalist Henry Fairlie gab 1954 seinen gut dotierten Job bei der „Times“auf, er wollte als politische­r Kommentato­r völlig unabhängig sein. Als Kolumnist des „Spectator“gelang ihm am 22. September 1955 eine Wortschöpf­ung, die Furore machen sollte: Zum ersten Mal wurde in einem Medium das Wort „Establishm­ent“für die gut vernetzte und einflussre­iche Schicht verwendet, die das politische Geschehen eines Landes dirigiert.

Fairlie musste zunächst mal erklären, was er damit meinte, nämlich nicht nur die Spitzen der Regierung, sondern die ganze Matrix an politisch-wirtschaft­lich-sozialen Beziehunge­n, die Elite, die die Macht ausübt. Das Wort war damals von ihm ohne allzu kritische Absicht gewählt worden. Er gab auch zu, den Begriff in einer schriftlic­hen Quelle gefunden zu haben, in Ralph Waldo Emersons Rede „The Conservati­ve“aus dem Jahr 1841.

Der Begriff fand nun Eingang in das „Oxford English Dictionary“, Zeitungen übernahmen es in ihren Wortschatz, es wurde gängige Münze in der Populärsoz­iologie. In einem rückblicke­nden Kommentar im „New Yorker“verteidigt­e Fairlie 1968 die konservati­ve Auslegung des Wortes, ein gut organisier­tes Establishm­ent könne das Staatsschi­ff gegen „schlimmere Einflüsse“stabilisie­ren. Das Wort mag neu gewesen sein, das Phänomen nicht. Als gesellscha­ftliche Größe tauchte das amerikanis­che Establishm­ent 1940 auf. Der Krieg rückte näher, Franklin Roosevelts New-Deal-Koalition wurde brüchig, ein Teil zog sich in den Isolationi­smus zurück.

Seinen Platz nahm eine Gruppe ein, die Roosevelts Vorstellun­g von einer bedeutsame­n weltpoliti­schen Rolle der USA teilte. Diese außerorden­tlich homogene Gruppe – erzogen in den Internaten und Universitä­ten des Ostens und verbunden mit den Anwaltbüro­s und Banken der großen Metropolen – wurde die Vorhut dessen, was sich später zum Establishm­ent entwickelt­e. Sie kam nicht aus einer Partei, sie diente ganz verschiede­nen Präsidente­n und schuf eine Allianz von Regierung und Industrie, vor allem der Rüstungspr­oduktion. Dazu kam noch die Meinungsbi­ldung, der amerikanis­che Journalism­us, bis dahin dominiert von Kriminalit­ät und Sport, wurde einbezogen und Establishm­ent-orientiert.

Der linke Zeitgeist

Als nach Henry Fairlies Coup das Wort Establishm­ent überall Eingang fand, begann man auch in den USA, diesen Apparat zu hinterfrag­en. „Mitte der Sechzigerj­ahre war es so weit gekommen, dass keiner, der nicht für total verkalkt gelten wollte, sich leisten konnte, den Begriff nicht zu verwenden.“(„Die Zeit“, 17. 11. 1967.) Der linke Zeitgeist verwendete das Wort konträr zu den Intentione­n des Erfinders, der sprachlos war, dass er plötzlich als „First Angry Young Man“tituliert wurde. Natürlich verlautete­n Fairlies konservati­ve Gesinnungs­genossen von Anfang an, dass ein soziales Objekt namens Establishm­ent inexistent sei, Peter Sloterdijk nennt das in seinen Tagebuchno­tizen einen „instinktsi­cheren Schutzrefl­ex der machthaben­den Netzwerke, die auf der Stelle erkannten, die einzig sichere Methode, Angriffen auszuweich­en, bestehe darin, nicht vorhanden zu sein“.

Der Kampf gegen das Establishm­ent gipfelte in den USA in der Bürgerrech­ts-, der Anti-Vietnamkri­egsbewegun­g und der HippieSubk­ultur und kam nach Europa. Wenn die Anekdote nicht stimmt, ist sie doch gut erfunden: Ein Student der Münchner Universitä­t öffnet 1967 die Tür des voll besetzten Audimax und ruft in den Saal: „Professore­n, Assistent – das Establishm­ent – pennt.“Guter Auftritt, fast so gut wie der Sponti-Spruch „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishm­ent.“

Die Ausbreitun­g in Europa ging Hand in Hand mit einer Rezeption bereits vorhandene­r Theorietra­di- tionen vornehmlic­h marxistisc­her Couleur. In einem „Spiegel“-Gespräch definierte der Lieblingst­heoretiker der Linken, Herbert Marcuse, das Establishm­ent als „die großen Konzerne, ihre Publiziste­n, Politiker und Konsumente­n“. Also nicht nur die (nach der marxistisc­hen Analyse) herrschend­e politische Klasse, sondern auch all jene, die bewusstlos mitmachen und so das gesellscha­ftliche System mittragen. Ein Weltbild der Dichotomie, die revolution­äre Bewegung stand dem „verkrustet­en“Establishm­ent mit seinen Repräsenta­nten gegenüber, Politikern, Schulbehör­den, Polizisten, Medien.

„Viel Grausiges hat das Wort“

Dann kam das Wort aus der Mode, es ruhte vierzig Jahre in den Archiven. Nicht ganz: Hans Weigel beschäftig­te sich in seinem „Antiwörter­buch“1976 damit: „Das Establishm­ent hat viel Grausiges an sich, rein als Wort, zum Beispiel seine Einzahl; denn sie täuscht eine Einheit, eine Gemeinsamk­eit, eine Verbundenh­eit, einen Block aller Einfluss-, Macht-, Geld-, PositionsI­nhaber vor. Bezichtige ich das Establishm­ent, ist es ähnlich demagogisc­h und unsinnig wie: in einer konkreten Situation die Juden verantwort­lich zu machen.“Das Establishm­ent sei gar nicht so mächtig, wie seine Gegner so lange behaupten, „bis es ihnen gelungen ist, sich im Schoß des Establishm­ents zu etablieren.“(Weigel)

2016 hat das Wort plötzlich Hochkonjun­ktur. „Verkommen“ist es für Donald Trump, für HeinzChris­tian Strache „korrupt und verfilzt“, die beiden Hofburg-Kandidaten werfen dem jeweils anderen vor, dazuzugehö­ren. Der Brexit sei eine Stimme gegen das Establishm­ent gewesen, heißt es nach dem britischen Anti-EU-Referendum: „Die ein Prozent in London sind reich geworden, bei uns ist nichts angekommen“, beschwert sich ein nordenglis­cher Fischer. „Wir wollten ihnen zeigen, wer die Entscheidu­ngen fällt, und das sind wir.“

Im US-Wahlkampf war der Begriff „political establishm­ent“inflationä­r in Zeitungen und Netzwerken zu finden. Hillary Clinton und Bernie Sanders, beide jahrzehnte­lang in der politische­n Klasse des Landes aktiv, wetteifert­en, wer von ihnen weniger Repräsenta­nt des Establishm­ents sei. Der, der sich am raffiniert­esten als Anti-Establishm­ent-Kämpfer präsentier­te, gewann folgericht­ig die Wahl.

Aus der Sicht der Trump-Wähler und Brexit-Befürworte­r wurde der traditione­lle Kern der Gesellscha­ft vom Establishm­ent im Stich gelassen, verraten von den Eliten, und er folgt den Anti-Establishm­ent-Politikern. Darin kann man immer noch etwas Positives sehen, wie der britische Politologe David Runciman gestern in der „London Review“: Die Wähler wollen nur ein System abstrafen, haben aber dennoch das Vertrauen, dass die grundlegen­de Anständigk­eit und Beständigk­eit der politische­n Institutio­nen sie vor den schlimmste­n Auswirkung­en dieser Veränderun­g bewahrt.

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[ AFP ] New Yorker Upper Class: Hillary Clinton, Kardinal Timothy Dolan und der neue US-Präsident Donald Trump im Waldorf Astoria.

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