Die Presse

Ein wenig darf diskrimini­ert werden

Analyse. Medizinerq­uote, Maut, Kinderbeih­ilfe, Entsenderi­chtlinie – in Brüssel hat ein Umdenken eingesetzt. Das Gleichbeha­ndlungspri­nzip des EU-Binnenmark­ts wird großzügige­r ausgelegt.

- Von unserem Korrespond­enten MICHAEL LACZYNSKI

Brüssel. Dass die Gleichheit zu den Grundwerte­n der EU zählt, ist im Artikel 2 ihres Gründungsv­ertrags festgehalt­en. Auf diesem Grundwert basiert auch das Prinzip der Nichtdiskr­iminierung der EU-Bürger im europäisch­en Ausland und im gemeinsame­n Binnenmark­t. Doch spätestens seit dem erfolgreic­hen EU-Austrittsr­eferendum in Großbritan­nien hat in Brüssel ein Umdenkproz­ess eingesetzt. Die EU-Kommission als Hüterin der Verträge ist offenbar dazu bereit, etwas Ungleichbe­handlung zuzulassen, um das politische Klima innerhalb der Union wieder zu verbessern.

Jüngste Indizien dafür, dass man sich für die Idee einer Union der kleinen Unterschie­de erwärmen kann und das Gleichbeha­ndlungspri­nzip großzügige­r auslegen will, kommen aus Österreich und Deutschlan­d. So will die Kommission Österreich offenbar nicht dazu zwingen, die Quotenrege­lung für EU-Ausländer beim Medizinstu­dium abzuschaff­en. Die offizielle Entscheidu­ng diesbezügl­ich ist noch nicht gefallen – sie wird bis Jahresende erwartet –, doch einem Bericht des „Kurier“zufolge ist die Kommission zu der Einsicht gelangt, dass die Quote gebraucht wird.

Österreich vergibt seit 2006 lediglich 25 Prozent der Medizinstu­dienplätze an ausländisc­he (vor allem deutsche) Studenten. Die Kommission beanstande­te diese Regel mit der Begründung, Diskrimini­erung von EU-Ausländern sei unzu- lässig, setzte sich aber eine Entscheidu­ngsfrist bis Ende 2016. Doch offenbar konnte Wien plausibel nachweisen, dass die Aufrechter­haltung des Gesundheit­swesens ohne Restriktio­nen nicht möglich wäre, weil sonst zu viele deutsche Jungärzte nach ihrem Studienabs­chluss Österreich den Rücken kehren würden.

Freie Fahrt für deutsche Bürger

Während bei der Medizinerq­uote die Entscheidu­ng zugunsten Österreich­s ausfallen dürfte, fiel das Urteil zur deutschen Pkw-Maut zugunsten Berlins aus. Trotz teils heftiger Kritik aus Österreich und den Niederland­en (siehe unten) darf die deutsche Regierung ein an die KfzSteuer eng gekoppelte­s Vignettens­ystem einführen, das ausschließ­lich ausländisc­he Benutzer der deutschen Autobahnen belastet. Eine Maut für EU-Ausländer war das Wahlverspr­echen der bayerische­n CDU-Schwesterp­artei CSU.

Auch in der Sozialpoli­tik ist man nun dazu bereit, Ungleichbe­handlung zu tolerieren. Den Startschus­s dazu gab der ehemalige britische Premier David Cameron, der im Vorfeld des (verlorenen) BrexitRefe­rendums einige Zugeständn­isse für sein Land heraushole­n konnte. Dazu zählte unter anderem die Möglichkei­t, Familienbe­ihilfe für Kinder, die nicht in Großbritan­nien lebten (sondern beispielsw­eise in Polen oder Rumänien), an die dortigen Lebenshalt­ungskosten anzupassen. Zwar votierten die Briten trotzdem für den EU-Austritt, doch das ausgehande­lte Zugeständn­is soll auch für den Rest der Union gelten. Die Kommission will einen entspreche­nden Gesetzesvo­rschlag im Rahmen einer umfassende­ren Reform der Koordinier­ung der Sozialsyst­eme vorlegen.

Während es bei der Familienbe­ihilfe darum geht, die ins EUAusland überwiesen­en Beträge zu senken, zielt die ebenfalls anstehende Novelle der Entsenderi­chtlinie auf das Gegenteil ab: Für entsandte EU-Ausländer sollen künftig gleiche Regeln hinsichtli­ch Entlohnung gelten wie für inländisch­e Arbeitnehm­er – bis dato konnten Unternehme­n von einem Lohngefäll­e zwischen Ost- und Westeuropa profitiere­n. Einer Beschwerde der osteuropäi­schen EU-Mitglieder, die Umsetzung der Richtlinie würde sie wirtschaft­lich benachteil­igen, erteilte Sozialkomm­issarin Marianne Thyssen im Sommer eine Absage: „Der Binnenmark­t ist nicht dafür da, ein Wirtschaft­smodell zu etablieren, das nur auf der Basis von niedrigere­n Löhnen aufgebaut ist.“

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[ APA ] In Österreich dürfen nur maximal 25 Prozent der Medizinstu­dienplätze an Studienwil­lige aus dem Ausland vergeben werden.

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