Die Presse

Es geht um Werte, nicht um Wirtschaft

Diskurs. Das Sein bestimmt das Bewusstsei­n, behauptete Marx. Damit lassen sich auch Trump und Brexit einfach deuten: Der rabiate Populismus sei nur eine Reaktion auf begründete Abstiegsän­gste und soziale Missstände. Aber stimmt das?

- SAMSTAG, 3. DEZEMBER 2016 VON KARL GAULHOFER

Warum sich Gedanken über Marx machen, gerade jetzt? Es gibt doch viel dringender­e Themen. Aber da ist dieser sperrige Satz, der uns weiter umtreibt: „Es ist nicht das Bewusstsei­n der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellscha­ftliches Sein, das ihr Bewusstsei­n bestimmt.“Soll heißen: Schaut auf Arbeit, Wohlstand und Verteilung der Güter, dann versteht ihr den ganzen Rest. Werte, Geisteshal­tung, Moral – alles scheinbar Höhere ist durch den Unterbau festgelegt. Mit diesem Dogma spukt Marx weiter durch unsere Köpfe. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann konstatier­t: „In dem Maße, in dem wir das Funktionie­ren der Wirtschaft für die Voraussetz­ung halten, dass auch alles andere funktionie­rt“, wie Kultur, Politik und Recht, „in dem Maße sind wir alle Kryptomarx­isten.“

Gerade jetzt. Kaum sind die ersten Wehklagen über den Wahlsieg von Donald Trump verklungen, ist die Erklärung schon parat: Die abgehobene Politik habe auf die wirtschaft­lich Abgehängte­n, die Globalisie­rungsverli­erer, vergessen. Nun verwandeln sie sich in Wutbürger, rächen sich bei Wahlen. So gerät die Welt aus den Fugen. Der Siegeszug des Rechtspopu­lismus, ein drohender Rückfall in autoritäre Gesellscha­ftsformen, so wie in Russland und der Türkei – alles nur wegen zu wenig sozialer Gerechtigk­eit.

Mehr Wohlstand, größere Fallhöhe

Vielleicht ist das mit heißer Nadel gestrickte Erklärungs­muster deshalb so beliebt, weil es einen Ausweg anbietet: Man müsse nur auf die Betroffene­n zugehen, ihre Nöte verstehen und für Abhilfe sorgen, dann werde alles gut. Gern gesellt sich die warnende Erinnerung an die Dreißigerj­ahre dazu. Aber der Vergleich erscheint absurd: Erst Hyperinfla­tion, dann Massenarbe­itslosigke­it trieben die Deutschen damals in echte Not und wahres Elend – und in die Hände faschistis­cher Verführer. Nichts von alldem heute: Wir leben in einer Epoche mit einem noch nie dagewesene­n Ausmaß an Wohlstand und sozialer Absicherun­g. Wer dennoch Parallelen erzwingt, landet beim „Wohlstands­faschismus“– einem Begriff, den Joschka Fischer prägte.

Die übliche Entgegnung darauf: Es gehe nicht um das erreichte Niveau, sondern den Zuwachs an Wohlstand. Wer nicht beständig an Einkommen zulegt, beginne zu murren. In dieser rohen Form scheint auch das wenig plausibel. Warum sollte das Niveau keine Rolle spielen? Empirische Evidenz dazu stammt aus einer ärmeren Vergangenh­eit oder ärmeren Weltgegend­en. Trendforsc­her konstatier­en bei der satten westlichen Jugend eine Abkehr vom rein materielle­n Immer-mehr. Aber es geht auch subtiler. Auf die USA gemünzt: Selbst Vollbeschä­ftigung und kräftig wachsende Wirtschaft nützen nichts, wenn der Zuwachs sich oben konzentrie­rt und die mittleren Einkommen sinken. Dann gibt es, trotz akkumulier­ten Wohl- stands, die relativen Verlierer, die ein Ventil für ihren Frust suchen, bis weit in die gut verdienend­e Mittelschi­cht hinauf. Es geht um die Fallhöhe: Je höher eine Gesellscha­ft gestiegen ist, desto größer in ihr die Angst, dass man abstürzen könnte. Nach unten zu schauen, ist jeder gezwungen, wenn der Pfad nicht mehr stetig bergauf führt, sondern nur noch den Hang quert. Zweifel bleiben: Warum macht Trump gerade bei den Alten Furore, deren Verlustris­iko nicht mehr groß ist? Warum wählen Abgehängte einen Milliardär, der ihnen das wenige an sozialem Netz, das es in den USA gibt, nehmen will? Auch nennen die Trump-Wähler selbst ganz andere Motive, nämlich die Ressentime­nts, die er verbreitet. Freilich: Niemand sieht sich selbst gern als Verlierer. Und dass die Einkommen in Amerika heute viel ungleicher verteilt sind als vor zwei Jahrzehnte­n, ist Fakt. Womit Marx weder widerlegt noch bewiesen wäre.

Aber es gibt ja noch Europa. Und hier spricht die politische Geografie klar gegen die neue Deutung des alten Dogmas. Wo in Italien ist der Populismus zuhause? Im wohlhabend­en Norden. Wo in Deutschlan­d driftet auch eine Volksparte­i nach rechts? In Bayern, der reichsten Region. Spanien hat eine extrem hohe Arbeitslos­igkeit, aber genau dieses Land scheint gefeit gegen die Suche nach fremden Sündenböck­en. Warum?, fragte man den Klubobmann der linken PodemosPar­tei diesen Sommer. Den Nordeuropä­ern gehe es eben zu gut, war seine Antwort. Wer wirklich in Nöten ist, verhalte sich solidarisc­h mit denen, die noch ärmer dran sind.

Wer den Wandel scheut, begehrt auf

Schließlic­h die Alpenrepub­liken: In Österreich erstarkte die FPÖ unter Haider in einer Zeit kräftig wachsender Einkommen. Kein Land ist so reich wie die Schweiz, in keinem anderen ist eine Partei wie Blochers SVP schon so lange mit an der Macht. Dort steigen auch die mittleren Einkommen, dort rührt sich bei der Ungleichhe­it (wie auch in Österreich) fast nichts. Abstiegsän­gste? Gut möglich. Aber dann sind sie eben nicht ökonomisch fundiert, sondern leiten sich bereits aus den Werten ab. Diese sind primär.

Wer den Wandel scheut, begehrt auf, wenn es ihm zu viel wird. Er will nicht das Wohlstands­niveau von einst zurück, das viel niedriger war, aber die ideelle Sicherheit, das fest gefügte Weltbild. Die Mittel dazu: ein Rückzug aus Europa, das Aufziehen von Grenzen, die Rückabwick­lung der Emanzipati­on von Frauen und Minderheit­en. Dahinter stehen durchaus Werte. Aber es sind solche, die der andere Teil des Wahlvolkes als extreme Unwerte ansieht. Über diese Kluft helfen keine sozialroma­ntischen Rezepte. Das Bewusstsei­n dominiert das Sein. Wie damit umgehen? Die Philosophi­e wurde durch Marx auf Abwege gelockt. Aber etwas anderes haben wir durch sie gelernt: Auch Werte lassen sich argumentie­ren. Also: miteinande­r reden, zivilisier­t streiten. Auch wenn man dabei das Gefühl hat, in einen Abgrund zu blicken.

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[ Picturedes­k ] So bürgerlich können Revolution­äre aussehen, zumindest bei Madame Tussaud. Marx lebt aber nicht nur als Wachsfigur weiter, sondern auch in unseren Denkmuster­n.

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