Die hungrigen Tiger und die Lotusblüte
Macao. Das Erbe der Portugiesen findet sich am schönsten in der Architektur. Dominiert wird die Stadt aber von baulichem Größenwahn und Konsortien, die mit dem Glücksspiel hier sechsmal mehr Umsatz machen als in Vegas.
Schnell nebeneinander aufgestellt, die Finger zu einem V geformt, den Kopf zur Seite geneigt und dann die weißen Zähne zeigen. Für die drei Chinesinnen, die sich auf den Treppenstufen positioniert haben, die zur Ruine von St. Paul führen, ist der Moment, in dem das Selfie entsteht, vermutlich der Höhepunkt ihres Besuchs der Altstadt von Macao.
Das portugiesische und christliche Erbe der Stadt, hier ist es nur noch Kulisse, denn St. Paul, eine Kirche mit angeschlossenem Kolleg, brannte im Jahr 1835 während eines Taifuns fast vollständig nieder. Übrig blieb nur die Fassade, die von japanischen Handwerkern kunstvoll gestaltet worden war.
Weniger als zwei Kilometer entfernt, in der Nähe der Barrastraße, findet sich mit dem MandarinHaus ein Gebäude, das ebenfalls zu Macaos Unesco-Weltkulturerbe zählt, das seine Besucher aber nicht mit einer Invasion von Selfieverrückten Reisegruppen, sondern mit Ruhe und Gelassenheit empfängt.
Schönheit der kleinen Dinge
Wer Dutzende von Räumen durchstreifen und betrachten will, der braucht schließlich Zeit. Nicht nur der Teufel liegt häufig im Detail, auch architektonische und kunsthandwerkliche Schönheit sind oft an kleinen Dingen zu erkennen. Das Mandarin-Haus ist ein knapp 150 Jahre alter Gebäudekomplex mit rund sechzig Zimmern, zur Zeit seines Baus um das Jahr 1869 war es das größte Privathaus in ganz Macao. Die Halbinsel stand damals bereits seit über dreihundert Jahren unter portugiesischem Einfluss. Das Mandarin-Haus, in dem es kunstvoll geschnitzte Holztüren und einen ummauerten Privatgarten ganz im chinesischen Stil gibt und das anfangs einem reichen Chinesen namens Chen Wenruy gehörte, ist nicht nur asiatisch geprägt. In ihm finden sich auch falsche Decken mit Stuckarbeiten, italienisch anmutende Säulen und am westlichen Stil orientierte Fenster. Der europäische Einfluss zeigte sich aber nicht nur in der Architektur des Hauses, sondern auch im Denken seiner Bewohner. Zh`eng Guany¯¯ıng, der Sohn des Bauherrn, war ein einflussreicher chinesischer Reformer und einer der Ersten, der die Einführung eines parlamentarischen Systems in China forderte. In einem seiner Bücher warnte er davor, in guten Zeiten die Vorsorge zu vernachlässigen – ein Thema, das zeitlos aktuell ist.
Aufgeschütteter Cotai-Strip
Bis etwa in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts war das Haus im Familienbesitz, danach wurde es verkauft, und in der Folgezeit lebten zum Teil über 300 Menschen gleichzeitig darin. Die Pracht verfiel – erst ab dem Jahr 2002 wurde das Anwesen acht Jahre lang von der Stadt restauriert. Mittlerweile ist es eines der Schmuckstücke unter den Weltkulturerbe-Bauten der Stadt.
Während früher das MandarinHaus eines der größten Gebäude Macaos war, hat der größte Bau der Jetztzeit ganz andere Dimensionen. Anreise: Beste Reisezeit: Das moderne Pendant zum Mandarin-Haus befindet sich auf dem Cotai-Strip, einem künstlich aufgeschütteten Gebiet, das die beiden Inseln Coloane und Taipa verbindet. Im Venetian, so der Name des Gebäudes, finden sich knapp 3000 Hotelsuiten, ein Einkaufszentrum mit mehr als 350 Geschäften sowie ein Veranstaltungssaal mit 15.000 Plätzen. Während das MandarinHaus beachtliche 4000 Quadratmeter Fläche vorweisen konnte, verfügt der Venetian-Komplex über eine Grundfläche von knapp einer Million Quadratmetern. Das von Las Vegas Sands betriebene Resort gehört damit zu den zehn größten Nutzgebäuden der Welt. Es beherbergt unter anderem das größte Casino der Welt mit etwa 800 Spiel- tischen und circa 3400 „hungrigen Tigern“, so der örtliche Kosename für die in Macao allgegenwärtigen Spielautomaten. Das MandarinHaus der Neuzeit bietet Besuchern auch eine überdachte Kunstwelt, in der philippinische Gondolieres chinesische Touristen auf italienisch anmutenden Gondeln „O sole mio“singend auf einem künstlichen Canal Grande zwischen Markenboutiquen entlang und durch die Rialtobrücke hindurchschippern.
Obligatorische Selfies
Für die chinesischen Besucher, die für 128 Macao-Dollar (etwa 15 Euro) in eine Gondel steigen können, ist auch hier das Selfie obligatorisch. Im Casino jedoch ist Fotografieren nicht erwünscht. Die At- mosphäre in der größten Glücksspielhalle der Welt wirkt nüchternsachlich, das Zocken, so scheint es, hat hier wenig mit Spaß und Vergnügen zu tun, es erscheint eher wie harte Arbeit.
In der Nachbarschaft des Venetian finden sich weitere Megaresorts der Superlative, allesamt mit eigenen Casinos. Etwa die City of Dreams, die durch ihre allabendlich „House of Dancing Waters“Show, eine spektakuläre Akrobatikshow auf elf hydraulischen Bühnen, Besucher anlockt und in der sich das zweitgrößte Casino der Welt findet.
Noch in diesem Jahr soll, ebenfalls auf dem Cotai-Strip, das Parisian eröffnen, für das ein stählerner Eifelturm in halber Originalgröße gebaut wurde. Künftig können chinesische Urlauber in Macao also nicht nur zocken, sondern auch ein künstliches Venedig und ein Pseudo-Paris an nur einem Tag erleben.
Sommerresidenzen
Doch in Macao gibt es auch viele Häuser, die Geschichten erzählen. Etwa am Senatsplatz, wo im IACMGebäude, dem früheren Senatsgebäude, die älteste westliche Bibliothek in Fernost bestaunt werden kann. Sie umfasst mehr als 20.000, zum Teil sehr seltene Werke, ihr gestalterisches Vorbild fand sich in der größten Schloss- und Klosteranlage ganz Portugals, im Konvent von Mafra. Oder auf der Insel Tai-