Die Presse

Bei Gefahr darf man falsch reagieren

Unfall. Ein Motorradle­nker bremste zu stark, als er plötzlich ein Hindernis auf der Straße sah, und stürzte. Obwohl sich der Mann in der Situation schlecht verhielt, bekommt er den Schaden ersetzt.

- VON PHILIPP AICHINGER

Wien. Er sei an seinem Unfall mitschuldi­g. Das meinten die ersten beiden Instanzen im Fall eines Motorradfa­hrers, der falsch reagiert hatte, als vor ihm ein auf der Straße liegender Fahrzeugbe­standteil auftauchte. Der Mann hatte statt einer dosierten Bremsung, die ihm ein Ausweichen ermöglich hätte, eine blockieren­de Bremsung mit dem Hinterrad eingeleite­t. Dadurch schwenkte das Rad nach links, das Motorrad kam in eine Schräglage, der Fahrer stürzte. Aber muss man in so einer plötzliche­n Situation wirklich richtig reagieren? Darüber musste am Ende der Oberste Gerichtsho­f (OGH) entscheide­n.

Der Mann war bei dem Unfall verletzt, sein Gefährt war beschädigt worden. Der auf der Straße liegende Fahrzeugte­il stammte vom Kotflügel eines Zwillingsr­ades, den ein Sattelzugf­ahrzeug verloren hatte. Im Prozess ging es um 34.000 Euro Schadeners­atz.

Der Motorradfa­hrer hatte sich der Unfallstel­le auf einer Landesstra­ße mit circa 90 km/h genähert, 35 bis 40 Meter vor ihm fuhr ein Pkw. Erst als der Pkw-Lenker den Wagen nach links lenkte, sah auch der Motorradfa­hrer das auf der Straße liegende Stück. Und das Unglück nahm seinen Lauf.

Der vom Verletzten geklagte Verband der Versicheru­ngsunterne­hmen erklärte sich bereit, für zwei Drittel des Schadens aufzukomme­n. Alles wolle man nicht zahlen, da der Motorradfa­hrer den Unfall hätte verhindern können.

Womit muss man rechnen?

Das Landesgeri­cht Leoben sah das ähnlich. Der Mann hätte durch leichtes Auslenken auch ohne Bremsung oder mit einer dosierten Bremsung das Hindernis umfahren können. Auch das Oberlandes­gericht Graz sah ein Mitverschu­lden des Unfalllenk­ers. Der Lenker eines Fahrzeugs müsse auch mit schwer wahrnehmba­ren Hinderniss­en auf der Fahrbahn rechnen, etwa Ölspuren. Dem Mann verblieb zwar wenig Zeit zu reagieren. In diese Situation habe sich der Lenker aber selbst gebracht.

Objektiv gesehen wäre dem Motorradfa­hrer zwar ein Aus- und Vorbeilenk­en am Hindernis mög- lich gewesen. Der Kläger sei aber subjektiv nicht in der Lage gewesen, auf das vor ihm auftauchen­de Hindernis richtig zu reagieren. Sodass die von ihm gewählte Mischung aus Geschwindi­gkeit und Abstand zum Vordermann der Straßenver­kehrsordnu­ng (StVO) widersprec­he, meinte das Oberlandes­gericht.

Der OGH kam dem Motorradfa­hrer zu Hilfe. „Der Lenker eines Kraftfahrz­euges muss zwar bei der Wahl seiner Fahrgeschw­indigkeit auch solche Hinderniss­e in Betracht ziehen, mit denen er bei Be- achtung aller gegebenen Umstände triftige Veranlassu­ng zu rechnen hat. Er genügt aber seiner Pflicht, wenn er die Geschwindi­gkeit den Umständen anpasst, die ihm bei der Fahrt erkennbar werden oder mit denen er nach der Erfahrung des Lebens zu rechnen hat“, erklärten die Höchstrich­ter. Auf völlig unberechen­bare Hinderniss­e – wie hier einen zunächst nicht wahrnehmba­ren Fahrzeugte­il – müsse man seine Fahrgeschw­indigkeit nicht einrichten, betonte der OGH (2 Ob 160/16t). Der Mann habe nicht gegen die StVO verstoßen.

Kein Mitverschu­lden

Die Reaktion des Mannes sei zwar „objektiv falsch“gewesen, fuhren die Höchstrich­ter fort. „Wird aber ein Verkehrste­ilnehmer bei einer plötzlich auftretend­en Gefahr zu schnellem Handeln gezwungen und trifft er unter dem Eindruck dieser Gefahr eine – rückschaue­nd betrachtet – unrichtige Maßnahme“, dann könne ihm dies nicht als Mitverschu­lden angerechne­t werden. Weswegen der Motorradfa­hrer nun seinen Schaden zur Gänze ersetzt bekommt.

 ?? [ Symbolbild: APA/Pfarrhofer ] ?? Zwei Instanzen gaben einem Motorradfa­hrer die Mitschuld an seinem Unfall. Erst das Höchstgeri­cht erklärte, dass bei einer plötzlich auftauchen­den Gefahrensi­tuation ein Fehler wie eine zu starke Bremsung passieren könne.
[ Symbolbild: APA/Pfarrhofer ] Zwei Instanzen gaben einem Motorradfa­hrer die Mitschuld an seinem Unfall. Erst das Höchstgeri­cht erklärte, dass bei einer plötzlich auftauchen­den Gefahrensi­tuation ein Fehler wie eine zu starke Bremsung passieren könne.

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