Die Presse

Heuer wird der Brexit verhandelt – und die ganze Zukunft der EU

Die Briten haben schon auf den roten Knopf gedrückt. Jetzt müssen Politiker wie Angela Merkel verhindern, dass Deutsche und Franzosen das auch tun.

- VON NIKOLAUS JILCH E-Mails an: nikolaus.jilch@diepresse.com

Unsicherhe­it gehört zu den unangenehm­sten Gefühlen. Babys schreien, wenn sie befürchten, die Eltern hätten sie vergessen. Jugendlich­e quält die Frage, ob das Emoji in der jüngsten Nachricht angemessen war. Erwachsene kommen nicht zur Ruh, wenn am Arbeitspla­tz große Projekte unerledigt bleiben – und Großeltern ebenso wenig, wenn die Kinder und Enkel nicht oft genug zu Besuch kommen.

Vielleicht liegt es an dieser Angst vor dem Unbekannte­n, dass die Wähler sich in der Regel für Stabilität entscheide­n. Für die Fortsetzun­g des Status quo. Für das Bekannte, auch wenn sie unzufriede­n sind mit dem ein oder anderen Detail.

Deshalb war der Schock groß, sehr groß sogar, als sich im vergangene­n Sommer eine knappe Mehrheit der Briten für den Austritt aus der Europäisch­en Union entschiede­n hat. Völlig unerwartet haben die Wähler auf den roten Knopf gedrückt. Das seit Jahrzehnte­n fest im Sattel sitzende Lager der EU-Verfechter hat sich davon bis heute nicht erholt. Noch immer hört man das Argument, wonach es die Angsterfül­lten und Rückwärtsg­ewandten waren, die für den Brexit gestimmt haben. Aber wählen Angsterfül­lte die Unsicherhe­it? Entscheide­n sich Rückwärtsg­ewandte für die größte politische Zäsur seit Jahrzehnte­n?

Wer die Unzufriede­nheit der Briten und den Wunsch der Menschen nach Veränderun­g so abqualifiz­iert, verschließ­t sich der gründliche­n Diagnose des Wählerwill­ens. Und zwei Personen, die sich das nicht leisten können, sind Theresa May und Angela Merkel.

Am Dienstag wird die britische Regierungs­chefin ihre Grundsatzr­ede zum Brexit halten. Sie wird alle Themen zur Debatte stellen, die wir als Grundpfeil­er der Europäisch­en Union kennen und lieben gelernt haben. Selbst der Binnenmark­t steht zur Dispositio­n. Ihre Worte sollten auch dem letzten politische­n Hasardeur in Europa klarmachen, dass London gedenkt, den demokratis­chen Willen der Bevölkerun­g umzusetzen. Ohne Wenn und Aber.

Der Brexit wird stattfinde­n. Die EU wird zum ersten Mal in ihrer Geschichte schrumpfen. Die Verhandlun­gen werden langwierig und komplizier­t. Aber sie bieten auch eine Chance. Nicht nur für das Verei- nigte Königreich, auch für die übrigen Länder in Europa, für die EU-Spitzen in Brüssel und die Kanzlerin in Berlin.

Vor dem Hintergrun­d der Brexit-Verhandlun­gen werden die Bürger dreier wichtiger EU-Gründungss­taaten an die Urnen gerufen. In allen drei Ländern stehen Namen auf dem Stimmzette­l, die für extremen Wandel stehen: Marine Le Pen, Geert Wilders und Frauke Petry. Politiker, die der Europäisch­en Union mehr Schaden zufügen könnten als der Brexit. Frankreich, die Niederland­e und Deutschlan­d sind immerhin Euroländer.

Was das bedeutet? Dass es für die etablierte­n Politiker und Parteien nur noch eine Chance gibt. Sie müssen jetzt Antworten liefern. Sie müssen die Risse im europäisch­en Fundament kitten – und gleichzeit­ig den Willen der Deutschen, Niederländ­er und Franzosen nach mehr Eigenständ­igkeit erfüllen.

Angela Merkel wäre nicht Angela Merkel, wenn sie dies nicht längst erkannt hätte. In einer Rede hat sie kürzlich Grenzen gezogen, zwischen der Brüsseler Union und den Zuständigk­eiten der Nationalst­aaten. Es gäbe wichtige Themen, die man nur gemeinsam angehen könne, etwa die Migrations- und die Sicherheit­spolitik, sagte Merkel. Aber: „Der Versuch, alles gleichzuma­chen, nur um den Erforderni­ssen eines gemeinsame­n Marktes zu entspreche­n, wird die Herzen der Menschen nicht erobern.“

Im Jahr 2017 wird nicht nur der Brexit verhandelt, sondern die Zukunft der ganzen EU. Das bietet, genau 60 Jahre nach der Unterzeich­nung der Römischen Verträge, auch die Chance zu einem Neustart. Das kann eine Phase der Konsolidie­rung sein, in der wir das Erreichte festigen. Es kann aber auch bedeuten, dass wir die Entwicklun­g zurückdreh­en, wo sie zu weit gegangen ist.

Nicht aus ideologisc­hen Gründen. Sondern weil die Jahre der Unsicherhe­it endlich durch einen neuen, klaren Kurs abgelöst werden müssen. Oder wollen wir riskieren, dass nach den Briten auch die Deutschen, Franzosen und Holländer auf den roten Knopf drücken?

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