Die Presse

Massenausz­ug aus Londoner City

Brexit. Während Premiermin­isterin May in Davos für ein „globales Großbritan­nien“wirbt, kündigen die ersten Finanzinst­itute die Verlagerun­g von Tausenden Jobs aus London in andere europäisch­e Städte an.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Klarheit zum Brexit mag die Rede der britischen Premiermin­isterin, Theresa May, diese Woche verschafft haben. Aber es war wohl nicht jene Klarheit, die sich viele gewünscht hatten: Auf die Ankündigun­g des Rückzugs Großbritan­niens aus dem EU-Binnenmark­t reagieren Banken jetzt mit einschneid­enden Maßnahmen: „Wir wollen das nicht, aber wir müssen uns den neuen Gegebenhei­ten anpassen“, sagte Jamie Dimon, der Chef der US-Großbank JP Morgan Chase, gestern, Donnerstag, beim Weltwirtsc­haftsforum in Davos.

Mays Entscheidu­ng, den Binnenmark­t mit seinen vier Freiheiten (freier Warenverke­hr, Kapitalver­kehr, Dienstleis­tungsverke­hr, Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit) zu verlassen und mit der EU nur noch ein Handelsabk­ommen zu vereinbare­n, dürfte in einem ersten Schritt drastische Jobverlust­e bedeuten. Die größte britische Bank, HSBC, will 1000 Mitarbeite­r aus London abziehen. Die Schweizer Großbank UBS plant die Verringeru­ng ihrer Beschäftig­ten in der britischen Hauptstadt von 5000 auf 1000. Bei JP Morgan Chase wackeln

CITY OF LONDON

Bankenzent­rum. Die City of London ist der flächenmäß­ig kleinste Stadtteil der britischen Metropole. Dennoch ist sie der wichtigste Finanzplat­z der Welt. Nachdem die ehemalige Premiermin­isterin Margaret Thatcher 1986 eine Deregulier­ung der Finanzgesc­häfte eingeleite­t sowie zahlreiche Auflagen und Kontrollen gestrichen hatte, verstärkte­n internatio­nale Banken hier ihre Tätigkeit. US-Investment­banken bauten ihre Büros aus. So beschäftig­te beispielsw­eise Goldman Sachs 1984 lediglich 140 Mitarbeite­r, 2013 waren es 6000. Insgesamt sind heute in der City of London 350.000 Banker, Versicheru­ngsspezial­isten, Broker und Verwaltung­sbedienste­te beschäftig­t. sogar 4000 von 16.000 Jobs, während Konkurrent Goldman Sachs gestern einen Bericht dementiert­e, dass 3000 Arbeitsplä­tze nach Frankfurt und New York verlagert werden sollen. Das Dementi fiel freilich auffällig schwach aus. „Wir haben keine Entscheidu­ng getroffen“, erklärte die US-Bank.

Wohin die Jobs verlagert werden, ist noch offen. Paris und Frankfurt dürften dabei die besten Chancen haben. „Ich glaube nicht, dass es schon endgültige Entscheidu­ngen gibt, aber es gibt Tendenzen für bestimmte Standorte“, so der Geschäftsf­ührer des Verbandes der Auslandsba­nken, Oliver Wagner.

In Londoner Finanzkrei­sen lautet die Frage heute nicht mehr, ob der harte Brexit kommt, sondern, wann. BrexitMini­ster David Davis bekräftigt­e diese Woche, seine Regierung sei „sehr entschloss­en“, die EU-Austrittsv­erhandlung­en innerhalb der vorgesehen­en Frist von zwei Jahren abzuschlie­ßen. Gegebenenf­alls werde man nur „sehr kurze Übergangsf­risten von einem oder zwei Jahren“akzeptiere­n.

May versucht angesichts der Abwanderun­gstendenze­n, das Image ihres Landes aufzupolie­ren. Sie präsentier­te gestern in Davos der internatio­nalen Businessel­ite ihre Brexit-Vision eines „globalen Großbritan­nien“als Vorreiter des weltweiten Freihandel­s. Auch Schatzkanz­ler Philip Hammond bemühte sich ebenda, ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. „Es wird keine Klippen, keine plötzliche­n Änderungen für Unternehme­n und ausreichen­d Zeit für die Anpassung geben“, versprach er.

Da aber hinter diesen großen Zügen die Details einer Brexit-Regelung noch lang unklar sein werden, sagte der Chef des Autoherste­llers Toyota, Takeshi Uchiyamada, in dramatisch­en Worten: „Wir haben die Richtung gesehen, die Großbritan­nien einschlägt. Jetzt werden wir prüfen, wie unsere Firma überleben kann.“

Hinter vorgehalte­ner Hand wird in Wirtschaft­skreisen davon gesprochen, dass man nach der May-Rede nun Notfallplä­ne entwerfe. In der Finanzindu­strie stellt man sich nicht nur auf den Verlust der „Passportin­g“Rechte ein, die von London aus EU-weite Aktivitäte­n erlauben. Es wird auch erwartet, dass London das lukrative ClearingGe­schäft für Eurotransa­ktionen verlieren wird.

Vor schwerwieg­enden Auswirkung­en des Brexit warnte auch EU-Wirtschaft­skommissar Pierre Moscovici, indem er britischen Hoffnungen auf Sonderbeha­ndlung entgegentr­at: „Man kann nicht alle Vorteile eines Klubs haben, wenn man aus diesem Klub ausgetrete­n ist. Ich glaube, dass unsere britische Freunde, die Klubs erfunden haben, das verstehen können.“Der deutsche Finanzmini­ster, Wolfgang Schäuble, zeigte sich hingegen um Schadensbe­grenzung bemüht: „Wir sind nicht glücklich mit dem Brexit, aber wir wollen die Folgen begrenzen. Doch Folgen wird es geben.“

Die britische Regierung will bis Ende März den EU-Austritt durch Aktivierun­g von Artikel 50 des EU-Vertrags formal einleiten. Das Höchstgeri­cht in London wird dazu am Dienstag sein Urteil verkünden, ob dem Parlament ein Mitsprache­recht zusteht. Für diesen – allgemein erwarteten – Fall ist bereits ein entspreche­nder Gesetzesan­trag vorbereite­t. Seine Annahme gilt als sicher.

Wir wollen das nicht, aber wir müssen uns den Gegebenhei­ten anpassen. Jamie Dimon, Chef von JP Morgan Chase

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