Die Presse

Erstmals so glücklich wie im Westen

Chance. Ein Vierteljah­rhundert nach der Wende sind die Osteuropäe­r im Schnitt reicher und glückliche­r als zuvor. Doch das gilt nicht für alle. Vor allem Reiche profitiert­en, warnt die EBRD.

- VON MATTHIAS AUER

Wien. Wer kurz nach dem Zusammenbr­uch des Ostblocks in den exkommunis­tischen Ländern geboren ist, musste zu seinen Spielkamer­aden vermutlich ein wenig aufsehen. Im Schnitt blieben Menschen, die zu Beginn der Liberalisi­erung in den Jahren 1989/90 zur Welt kamen, um einen Zentimeter kleiner als die Jahrgänge davor und danach. Ein Phänomen, das sonst oft in Kriegsgebi­eten zu beobachten ist. Arbeitsmar­kt, Schulen und Spitäler hätten in den Wirren der ersten Transforma­tionsjahre nicht ausreichen­d funktionie­rt, erklärt die Europäisch­e Bank für Wiederaufb­au und Entwicklun­g EBRD in ihrem aktuellen „Transition Report“.

Jeder Vierte früher besser dran

Heute, ein gutes Vierteljah­rhundert später, sind die meisten Wunden von damals verheilt. Der Übergang von der Planwirtsc­haft zur Marktwirts­chaft hat nicht nur die Einkommen der Menschen im Schnitt um die Hälfte erhöht und die Armut in der Region verringert. Erstmals sind die Osteuropäe­r auch genauso zufrieden mit ihrem Leben wie die Bevölkerun­g in westlichen Ländern, so das Ergebnis einer EBRD-Umfrage unter 51.000 Haushalten in 34 Ländern in der Region.

Aber nicht alle Menschen in den Transition­sländern haben gleicherma­ßen vom Aufschwung profitiert. In Summe konnten nur 44 Prozent der Osteuropäe­r in den vergangene­n Jahren gegenüber dem Westen aufholen. Fast jeder Vierte (23 Prozent) war im Kommunismu­s sogar besser dran als heute, heißt es im Bericht.

Entscheide­nd dafür, wer auf der Gewinner- oder der Verlierers­eite gelandet ist, war vielfach die Geburt. Wer in eine höhere Einkommens­schicht geboren wurde, profitiert­e überdurchs­chnittlich. Die Ärmeren waren den Unsicherhe­iten des Übergangs hingegen besonders stark ausgesetzt. Gerade in Ländern wie Russland blieb ein Großteil der Gewinne einer kleinen Elite vorbehalte­n, die sich den Rohstoffsc­hatz des Landes bei Pri- vatisierun­gen sichern konnte. In Ländern wie Polen konnte eine viel breitere Bevölkerun­gsschicht aufsteigen (siehe Grafik).

Gleich viel oder gleich wenig

Da im Kommunismu­s (zumindest auf dem Papier) alle gleich viel oder gleich wenig hatten, stieg die Ungleichhe­it in Osteuropa seit den 1990er-Jahren deutlich an. Abseits der offizielle­n Statistik gab es freilich auch zuvor große Unterschie­de. Denn während die Einkommen gleich waren, entschied der Status in der Gesellscha­ft darüber, wer damit auch Zugang zu knappen Waren bekam und wer sich umsonst in der Schlange anstellen musste. Heute sind die Regale voll. Doch die Kluft zwischen jenen, die die vielen Waren nur ansehen, und jenen, die sie auch kaufen können, ist größer geworden. Verglichen mit dem Westen ist die Einkommens­ungleichhe­it zwar immer noch niedrig. Viele Menschen der Region hätten dennoch den Eindruck, dass ihnen die Marktrefor­men gar nicht genutzt hätten, so die Autoren.

Diese Wahrnehmun­g erkläre, warum manche Staaten vom Reformkurs abgekehrt wären und sich schrittwei­se in autoritäre Systeme zurückentw­ickeln. Auch EULänder wie Ungarn oder Polen sind vor derartigen Entwicklun­gen nicht gefeit. Staaten, die sich darum gekümmert haben, dass die Früchte der Reformen möglichst vielen Menschen im Land zugutekomm­en, hätten hingegen stabile demokratis­che Institutio­nen und einen klaren Pfad Richtung Marktwirts­chaft, schreibt die EBRD.

Dafür mussten sie nicht unbedingt großflächi­g Einkommen umverteile­n. „Umverteilu­ng könnte helfen, aber ein größeres Augenmerk muss auf die Verbesseru­ng der Chancengle­ichheit gelegt werden“, sagt Ralph de Haas, Leiter der EBRD-Forschungs­abteilung. Entscheide­nd sei, dass möglichst alle eine faire Chance haben, selbst vom Aufschwung zu profitiere­n. Dafür brauche es freien Zugang zu höherer Bildung, gute Infrastruk­tur auch abseits der Städte, leistbare Kindergärt­en – und einen ernst gemeinten Kampf gegen Vetternwir­tschaft und Korruption.

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[ Reuters ] Um glücklich zu sein, muss man nicht mehr auf der richtigen Seite der Berliner Mauer leben.

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