Die Presse

„Wir sind jetzt eine Abstiegsge­sellschaft“

Fernsehen. Im neuen „Tatort“will ein Student seine Eltern töten, um die Leistungsg­esellschaf­t anzuprange­rn. Autor und Regisseur Rupert Henning findet, der Druck auf junge Leute sei zu groß. Und er findet, sein Antiheld hat inhaltlich recht.

- VON ISABELLA WALLNÖFER

Die Presse: Im neuen Wiener „Tatort“wird ein junger Mann seine Eltern als Geiseln nehmen und drohen, sie umzubringe­n. Das nur, um Kritik an der Leistungsg­esellschaf­t zu üben. Wie kam Ihnen diese Idee? Rupert Henning: Eine der Initialzün­dungen war der Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium von Erfurt im Jahr 2002. Man kannte auch die Ereignisse an der Columbine High School. Ein Bild, das man da immer wieder sah: Vor den Schulen liegen Zettel, brennen Kerzen, und meist findet man auch Schilder, auf denen steht: „Warum?“. Genau diese Frage habe ich mir auch gestellt.

Der Täter in „Schock“ist kein Verlierert­yp. Und trotzdem rastet er aus. Er ist nicht sozial benachteil­igt. Seine Tat ist weder politisch noch religiös motiviert. Er ist ein Gewinner, ein Musterschü­ler. Er will seine Kritik an diesem System, an der Leistungsg­esellschaf­t möglichst medienwirk­sam rüberbring­en. Das ist seine Motivation.

Ihre Frau, Mercedes Echerer, spielt eine Uni-Professori­n und ehemalige Aktivistin, die quasi den geistigen Grundstein für die Tat gelegt hat. Wie war sie involviert? Mercedes war Abgeordnet­e im Europaparl­ament. Dort wurde über Erfurt diskutiert. Auch zu Hause haben wir viel geredet: Unsere Zwillinge waren damals acht Jahre alt. Erziehung war ein großes Thema: Wie begleitet man junge Menschen in die Zukunft?

Haben Sie selbst schlechte Erfahrunge­n mit der Leistungsg­esellschaf­t gemacht? Ich erlebe das total. Wie jeder, weil wir darin leben. Natürlich kann man sich teilweise entziehen, kann Antitoxine einwerfen – und damit meine ich keine Tabletten, sondern andere Lebensform­en. Aber das Thema wird von Jahr zu Jahr relevanter. Nach der sogenannte­n Weltwirtsc­haftskrise sehen wir viele junge Leute, die toll ausgebilde­t sind, die alles getan haben, damit sie eine gute Zukunftspe­rspektive haben – und die trotzdem keine Chance haben. Seit 1945 waren wir eine Aufstiegsg­esellschaf­t, jetzt sind wir eine Abstiegsge­sellschaft.

Verschärfe­n die sozialen Medien das? Man muss sich auf Facebook und Co. ununterbro­chen vergleiche­n. Natürlich kann man sich dem bis zu einem gewissen Grad entziehen, sich verweigern. Aber der Druck in der Gesellscha­ft ist enorm. Wäre es nicht auch Aufgabe der Politik, die Situation zu entschärfe­n? Eindeutig. Man muss nachdenken über das Erziehungs- und das Schulsyste­m. Es ist ein Unterschie­d, ob man am Beginn der Schulkarri­ere sagt: Schauen wir einmal, ob du reif für die Schule bist, und dann bitte passe dich ein in das System. Oder man sagt: Schön, dass du da bist, schauen wir, was dich interessie­rt und was wir für dich tun können. Und natürlich kann die Politik gestaltend und ordnend dafür sorgen, dass man möglichst viele Leute erzieht – oder besser begleitet –, die möglichst viel denken, die wissen, was sie wollen und was gut für sie ist.

Kommissar Eisner (Harald Krassnitze­r) lässt diesmal sogar seine Tochter abführen, weil ihr Freund in die Sache verstrickt zu sein scheint. Am Ende sagt Eisner: „Wir haben das Richtige getan, und es ist das Falsche dabei rausgekomm­en.“Und dann: „Ich gehe jetzt zu meiner Tochter, das ist auf alle Fälle nicht falsch.“Das ist die Grundbotsc­haft: Es geht um den sozialen Kitt.

Der fehlt dem Täter, dessen Vater zu ihm sagt: „Niemand wird dich fragen, wer du bist, nur was du bist.“Die Reaktion ist brutal und selbstzers­törerisch. Natürlich ist kritikabel, was er tut. Aber er verbreitet richtige Inhalte. Er sagt: Ich zwinge euch, mir zuzuhören, und ihr werdet an das hier denken müssen, ob ihr wollt oder nicht. Das ist ein sehr naiver Wunsch, aber ich finde diese Form der Naivität gut.

Das ist Ihr zweiter „Tatort“. Wie geht es Ihnen mit diesem Format? Ich finde den „Tatort“großartig. Es ist eine enorme Chance, dass ich als Geschichte­nerzähler die Möglichkei­t habe, zehn, elf Millio- nen Menschen zu erreichen. Dafür müsste ich ein Leben lang das gleiche Stück im Burgtheate­r spielen. Allerdings hat man budgetäre Grenzen. Das ist kein Kinofilm. Für den „Tatort“hat man nur 21 Drehtage: Da kommt man in der Früh zum Set und hat schon verloren – gegen die Zeit. Aber das Team war sehr gut vorbereite­t, insofern war es ein freudvolle­s Arbeiten.

Schauen Sie „Tatort“? Was noch? Der „Tatort“ist die letzte lebende heilige Kuh des öffentlich-rechtliche­n Fernsehens. Aber da gibt es eine große Bandbreite. Ich schaue nicht jeden „Tatort“. Da ich viel lese, schaue ich sehr selektiv fern. Es gibt aber erzähleris­che Formen, die mich interessie­ren: Die „Sopranos“, „Breaking Bad“, auch „Downton Abbey“: Eine Serie über die Upperclass der Jahrhunder­twende könnte unfassbar langweilig sein – ist sie aber nicht.

Wie ist es für Sie, mit Ihrer Frau zu arbeiten? Leichter als mit anderen? Schwerer? Das stellt sich jedes Mal neu heraus. Wir haben eine sehr dynamische Beziehung, die sich immer verändert – und so verändern sich die Sachen, die wir miteinande­r tun. Ich habe mit Mercedes sehr lang über die Rolle geredet, sie bis zu einem gewissen Grad auch für sie geschriebe­n. Aber hätte sie nicht für die Rolle gepasst, hätte ich sie nicht gefragt, ob sie sie spielen möchte.

(* 1967 in Klagenfurt) studierte Geschichte und Anglistik und arbeitet als Autor, Schauspiel­er und Regisseur. 2005 brachte er ein Stück über einen Studenten heraus, der droht, sich und seine Eltern zu töten: „Die unterblieb­enen Worte“. Jetzt ist das Thema Stoff für einen „Tatort“: „Schock“läuft am 22. 1., um 20.15 Uhr, in ORF 2.

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[ M. Pauty ] Rupert Hennings „Tatort“läuft am Sonntag.

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