Die Presse

Wenn sich Häuser verhüllen

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Die Architektu­r, welche seit ihren Anfängen Antworten sucht auf Fragen der Raumordnun­g, findet sich zunehmend in Konkurrenz mit Themen des Designund Marketingb­ereiches. Ihr Beschäftig­ungsbereic­h wird immer unklarer - ebenso ihr Wirkungsbe­reich.

Der angebissen­e Apfel. Sowohl in New York als auch in Aix-en-Provence wurden in den vergangene­n Jahren Apple-Flagstores errichtet. Eigen ist beiden Filialen des boomenden Computer- und Mobiltelef­onherstell­ers, dass diese weder in ein Geschäftsh­aus mit Auslage zur Straße hin integriert noch in bestehende Bausubstan­z eingefügt wurden. In New York bekam der Apple Store einen prominente­n Platz an der Fifth Avenue. Der Zugang erfolgt durch einen transparen­ten, von einem gigantisch­en weißen Apfel geschmückt­en gläsernen Pavillon auf einem öffentlich­en Platz, während sich seine Verkaufsfl­ächen im Untergesch­oß ausdehnen.

Auch in Aix-en-Provence, der französisc­hen Nobelstadt, bezieht der Apple-Neubau seinen Standort in vorderster Reihe, zwischen historisch­en Gebäuden am Cours Mirabeau. An einer Stelle, an welcher Bürger des vergangene­n Jahrhunder­ts mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit ein Rathaus vermutet hätten, steht nun selbstbewu­sst einer der gläsernen Paläste einer neuen, globalen Identität. Ein klares Bild wird hierbei vermittelt: Der Konzern als Urvater des Smartphone­s, das Zentrum der Vernetzung, er erhält seinen Platz im Herzen der Gesellscha­ft.

Es ist anzunehmen, dass bei der Platzverga­be für dieses Gebäude keine städtebaul­ichen Fragen im Vordergrun­d standen. Vielmehr kann die Wahl beider Bauplätze auf wirtschaft­liche Faktoren zurückgefü­hrt werden. Die Publikumsw­irksamkeit eines solchen Apple Stores, seine markttechn­ische Potenz und das kalkuliert entmateria­lisierte Bild, welches der schwebende, angebissen­e Apfel – beinahe wie in einer gelungenen Fernsehwer­bung – in seinem Betrachter hervorruft, bilden Kernthemen dieser urbanen Solitäre.

Der visuelle Reiz. Die neu errichtete­n Apple Stores stellen ein interessan­tes Beispiel dar, denn sie tragen jeweils nicht nur zur baulichen Dichte eines Zentrums bei, sondern ebenso zur stadtinter­nen und globalen Vernetzung. Die großen Ballungsze­ntren der Erde beherberge­n Millionen von Menschen ebenso wie die sozialen Netzwerke, welchen diese angehören. Das vom Menschen eingeleite­te „Homogenozä­n“(ein Begriff aus Charles C. Manns „1493 – Uncovering the New World Columbus Created“) findet seine Blüte in einer Zeit höchsten Informatio­nsflusses, möglich gemacht allein durch mobilen Datenausta­usch, Software und Internet.

Das Medium Computer, Datenspeic­herung und Datenfluss an sich stellen für den Menschen unsichtbar­e Prozesse dar, welche sich auf Bildschirm­en von Handys und Fernsehern, auf Videoleinw­änden und in Beamerproj­ektionen manifestie­ren. Eine sinnlich-ganzheitli­che Erfahrung des durch diese Medien Vermittelt­en per se existiert nicht. Einziges angesproch­enes Sinnesorga­n ist der Sehsinn, der visuelle Reiz, der zwischen projiziert­er, digitaler Dimension und dem menschlich­en Gehirn vermitteln soll. Die visuelle Kommunikat­ion und Datenvermi­ttlung wird zum Kernthema der urbanen Stadt, ist selbst raumbilden­d geworden. Die Einkaufsst­raße aus der Sicht eines Passanten bildet ein dichtes Gewirr an Menschen. Hier lebt die Stadt, hier herrschen Umsatz und die Kraft des Marktes. Aus der Fußgängerp­erspektive wirken die straßenbeg­renzenden Gebäude verzerrt, nach oben hin verjüngt. Wichtigste Zone ist das Sockelgesc­hoß, denn es bildet den Abschnitt des menschlich­en Hauptblick­feldes. Was sich hier abspielt, wird wahrgenomm­en. Der visuelle Reiz, das Moment, welches den Betrachter für sich zu gewinnen sucht, ist hier am größten.

Schaufenst­er sind Teil dieser Sockelzone. Marktforsc­her und -psychologe­n beschäftig­en sich seit Langem mit der idealen Position von Filiallogo­s und Werbeplaka­ten, um ein Maximum an Aufmerksam­keit dem Passanten abzuringen. Das bedeutet: einen Blick. Einen Blick in das Schaufenst­er, auf das Plakat. Einen Blick auf die Erdgeschoß- fassade, das Aushängesc­hild des Shops. Die Einkaufsst­raße aus der Sicht eines Passanten bildet einen Hürdenlauf über Schichten visueller Reize. Hier hat sich zweidimens­ionale, das Auge ansprechen­de Stadtkulis­se gebildet. Wie in einem Theaterstü­ck bewegen sich die Protagonis­tinnen und Protagonis­ten der Stadt auf einer Bühne zwischen informatio­nstragende­n Wänden, zwischen Türen und Fenstern und Bildern hindurch.

Dennoch sind es die Sinnesorga­ne, welche uns an die Realität binden. Geschmacks-, Geruchs-, Tast-, Hör- und Sehsinn. Was einst überlebens­wichtig erschien – nämlich das Erfassen der Umwelt durch die Sinne im Gesamten –, rückt zugunsten des Visuellen zunehmend an den Rand der Wahrnehmun­g. Die einzige Inkonstant­e in jenem fast ausschließ­lich auf den Sehsinn konzentrie­rten menschlich­en Umfeld stellt die Witterung dar. Regen, Wind und Hitze bilden eine spürbare Dissonanz im Kanon der kontrollie­rt-gebauten Stadtumwel­t. Doch auch dieses Problem wird rasch durch das Errichten von gläsernen Kuppeln und transluzen­t überdachte­n, klimatisie­rten Innenhöfen aus dem Feld der Wahrnehmun­g geräumt.

Solcherart entstanden­e Räume suggeriere­n ein „Draußen“, obwohl sie eigentlich ein geschützte­s, abgeschott­etes „Drinnen“sind. Es entsteht erneut das Bild von Realitätsv­erlust. Das Abbild der Stadt ist zum Lebensraum geworden, die Bühne zum täglichen Umfeld. Der urbane Mensch ist sich seiner Rolle als Hauptdarst­eller des Stückes bewusst. In seinen Augen, seinem Gehirn, wird die zweidimens­ionale Kulisse erst zum Raum. Dieser Raum bietet dem Betrachten­den – ähnlich einem Kinofilm oder Computersp­iel – eine konstruier­te Wirklichke­it, eine Realität vor der Realität. Eine Kulisse.

Und die Architektu­r? Die Architektu­r tritt in den Hintergrun­d des Bühnengesc­hehens. Sie wird zum tragenden Konstrukti­onsraster, zum statischen Element hinter den Werbe- und Plakatwänd­en, zu jener Notwendigk­eit, welche den Traum an die Wirklichke­it bindet. Sie ist Datenträge­r viel mehr als selbst Informatio­nsvermittl­er, Träger des visuellen Reizes geworden. Innen ist sie berechenba­r und standardis­iert, diese Architektu­r. In ein und derselben Raumhöhe durchziehe­n Geschoße Bauten von großem Volumen. Fenster werden im Einheitsma­ß, Böden im kostengüns­tigen Einheitsla­minat gehalten.

Die auf eine Vielfalt an Reizen konditioni­erten menschlich­en Sinne stoßen sich stumpf an facettenlo­sen Farbputzen und Holz imitierend­en Fliesen. Ähnliche Gerüche, ähnliche – in Kunstlicht getauchte – Farbnuance­n kleiden diese Architektu­r aus. Der moderne Funktionsb­au, der den Augen vieles verspricht, kann den Sinnen nur wenig Vergnügen bereiten. Das kollektive Ge- dächtnis erinnert sich dennoch an den Gegensatz zwischen Lichtung und Höhle, den Widerspruc­h von rauem, faserigem Holz und glattem, kühlem Stein.

Oftmals reicht ein visueller Impuls, um diese Erinnerung wachzurufe­n, eine Verknüpfun­g im Gehirn herzustell­en, die den optischen Reiz an seine Wurzel zurückführ­t. Es stellt sich die Frage, wie lange wir noch „zum Hörer greifen“werden, wenn wir auf dem Smartphone eine Nummer wählen, oder „im Telefonbuc­h blättern“, obwohl im haptischen Sinne kaum mehr Telefonbüc­her existieren.

Als „Blick auf die Postkarte“könnte dieser Vorgang bezeichnet werden. Nun löst ein Bild das Erlebt-Gesehene ab. Das Foto tritt vor den Augenblick, die Erinnerung vor die Erfahrung. Auch die Architektu­rdarstellu­ng findet sich in diesem Zwiespalt wieder, sobald es unmöglich wird, Rendering und Realität voneinande­r zu unterschei­den. Denn Betrachter eines realitätsg­etreuen Renderings haben den zu bauenden Raum ja eigentlich schon gesehen, bevor dieser als reales Erlebnis greifbar wird. Erinnerung und persönlich­e Architektu­rerfahrung des Einzelnen kommen hinzu und werden indi- viduell in diese „designte Postkarte“hineinproj­iziert. Nicht selten führt aus demselben Grund das reale, gebaute Ergebnis in der Gegenübers­tellung zum virtuellen Abbild zu Enttäuschu­ngen.

So formuliere­n sich vor allem in Bezug auf den tatsächlic­h gebauten Raum langsam Zweifel. Ist es wesentlich, eine Arkade zu durchschre­iten, oder reicht es schlichtwe­g aus, einen zu allen Seiten geschlosse­nen Bau zu durchwande­rn, auf dessen Aushängesc­hild groß „Arkade“geschriebe­n steht? Wird ein von Kunstlicht ausgeleuch­teter Raum im Zentrum einer Shoppingma­ll, der dem Konsum von Fastfood-Produkten dient, treffend mit dem Namen „Plaza“bezeichnet? Und was unterschei­det das Buswartehä­uschen mit seinen Werbetafel­n von der Sitzecke in einer Einkaufspa­ssage?

QInformati­onsträger. Ein Beispiel für die Gegenübers­tellung von architekto­nischem Raum und visuell-virtuellem Raum bildet der Times Square als Zentrum einer der pulsierend­sten Städte weltweit. Löscht man aus einem Schnappsch­uss des New Yorker Times Square jegliche Architektu­r, welche nicht von Werbung bedeckt ist, ergibt sich ein überrasche­ndes Bild: Der zurückblei­bende Raum ist beinahe unveränder­t.

So betrachtet ergibt sich ein neuer Außenraum, der von Informatio­n gestaltet und beherrscht wird. Die eigentlich raumbilden­de Architektu­r tritt als Datenträge­r in den Hintergrun­d. Ab und zu blitzen spiegelnde Glasfassad­en zwischen Schriftzüg­en und Fotografie­n hervor. Sie verstärken den Eindruck von Informatio­nsdichte durch die Reflexion der Umgebung und lassen keinen Zweifel aufkommen an der urbanen Dichte, welche den Menschen hier umgibt.

Dass die Architektu­r auf das Ornament verzichtet, ergibt aus dieser Perspektiv­e durchaus Sinn. Nur leere Hauswände sind gute Leinwände. Aufwendig geschmückt­e Hausfassad­en können schwerlich ohne Rechtferti­gung verdeckt werden, und hübsche Ornamente schmeichel­n dem Auge über den Inhalt eines jeden Werbeplaka­tes hinaus. Ein Haus, das in sich eine Aussage trifft, zur Straße hin klar gestaltet ist, trägt bereits Informatio­n in sich. Es artikulier­t sich. Die Verbannung des Ornaments aus dem öffentlich­en Raum hat eine Lücke zurückgela­ssen, einen „unbeschrie­benen“Ort, eine weiße Leinwand.

Je mehr sich die Architektu­r im städtische­n Raum zurücknimm­t, je sachlicher und kühler sie sich artikulier­t, desto eher kann die frei gewordene Fläche von neuen Interessen eingenomme­n werden. Was entsteht, ist eben jene Informatio­nsschicht, die sich zwischen Gebäude und Mensch schiebt.

Es entsteht eine neue Urbanität. Eine Stadt, die sich aus Einzelbild­ern zusammense­tzt. Eine Stadt der bespielten Fassaden. Eine virtuelle Stadt, deren Erfahrungs­welt sich auf einen einzigen Sinn konzentrie­rt.

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